Vom Kanon der Verbote und der postmedialen Musik – Überlegungen zu Tabu Tonalität (original) (raw)
die Konstitution musikalischen Zusammenhangs durch Tonalität ist unwiederbringlich dahin. Weder glaubt die dritte Generation an die beflissenen Dreiklänge, die sie blinzelnd schreibt, noch vermöchten die fadenscheinigen Mittel von sich aus zu anderem Klang eingesetzt zu werden als dem hohlen." i So schrieb Theodor W. Adorno in seiner 1949 erschienenen Philosophie der neuen Musik und zementierte damit die Ablehnung der tonalen Musik, die vor ihm bereits Schönberg als überholt erklärt und mit seiner Methode der "12 nur aufeinander bezogenen Töne" systematisch ausgehebelt hatte. Das Tabu Tonalität hatte in der Zeit, als Adorno diese Zeilen schrieb zweifelsohne seine Hochzeit. Hat dieses Gebot heute noch Gültigkeit? Spontan wirkt es veraltet, wähnen sich doch die meisten der zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten in einer Zeit, in der alles erlaubt ist. Die Frage nach dem Tabu Tonalität erweckt dadurch beinahe schon nostalgische Gefühle und erinnert an eine Zeit, als die Welt geordnet schien, in der Richtig und Falsch unmissverständlich voneinander getrennt waren. Nun sind Tabus widerspenstige Gefährten, sie verabschieden sich nicht einfach dadurch, dass sich die Rhetorik im betreffenden musikalischen Diskurs ändert. Auch wenn längst ein "alles ist erlaubt" formuliert und proklamiert wurde, greifen allzu oft die Fesseln der vergangenen Verbote auf unbewusste und damit umso widerstandsfähigere Art. Geht man heutzutage im deutschsprachigen Raum auf ein Festival der instrumentalen Neuen Musik, fällt auf, dass der überaus dominante Teil der zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten die Tonalität bestenfalls mit größter Vorsicht angreifen. Verbalisiert man heutzutage aber noch, dass Tonalität verboten sei, erntet man damit am ehesten ein müdes Lächeln. Tatsächlich scheint das einstige Verbot in der Praxis aber noch verblüffend stark nach zu wirken. Wozu dienen Tabus? Entsprechend der Anthropologin Mary Douglas, schützen Tabus eine Gesellschaft, indem sie eine bestimmte Ordnung aufrechterhalten, also konservieren, und von der Verbreitung einer unheilbringenden Idee oder Substanz schützen. Feared contagion extends the danger of a broken taboo to the whole community. ii Ein typisches Beispiel für ein kulturübergreifendes Tabu ist das Inzestverbot, das eine Familie und damit auch die Gesellschaft vor Fehlgeburten und genetischer bedingter Resistenzschwäche schützen soll. Entsprechend sollte die neue Musik der 50er Jahre vor einer vermeintlich degenerativen Wirkung der Tonalität geschützt werden, die, so Adorno, von der Kulturindustrie vereinnahmt und zur Verblendung des Bürgertums benutzt wurde. iii Um die Frage zu beantworten, ob so ein Tabu heute noch Gültigkeit hat, ist es meiner Meinung nach notwendig, sich zu vergegenwärtigen, aus welcher Situation heraus dieses Verbot einst entstanden