Bhaktivinod Thakur: Jaiva Dharma. Das Wesensgesetz der Seele. Deutsche Auflage übersetzt aus dem Bengalischen bearbeitet und mit Anmerkungen versehen von Sadananda Das. – Einleitung und weitere Anmerkungen von Katrin Stamm (2014). (original) (raw)

Inhalt Seite 1. Kapitel: jiver nitya o naimittik dharma {Der ewige und der zeitweilige Dharma des Jiva} 9 2. Kapitel: jiver nitya-dharma -shuddha o sanatana Der Ausdruck des Wesensgesetzes der Seele ist lauter und unveränderlich 23 3. Kapitel: naimittik dharma asampurna, heya, mishra, o acirasthayi Der unwesentliche Wesensausdruck (naimittika-Dharma) ist Halbheit (asampurna, unvollkommen), minderwertig (heya), unrein und gemischt (mishra) und temporär (nur kurze Zeit während) (acirasthayi) 34 4. Kapitel: nitya-dharmer namantara vaishnava-dharma Vaishnava-Dharma ist eine andere Bezeichnung für nitya-Dharma 55 5. Kapitel: nitya-dharma, naimittik naya vaidhi-bhakti {Vaidhi-Bhakti ist nitya, nicht naimittika-Dharma} 75 11. Kapitel: nitya-dharma o vyut-parasta arthat pauttalikata Nitya-Dharma und Pauttalikata {Verehrung der Murti} 90 8. Kapitel: nitya-dharma o vyavahar {Nitya Dharma und die gesellschaftlich gebotenen Pflichten} 103 39. Kapitel: lila-pravesha-vicara Erörterung (vicara) des Hineinkommens (pravesha) in die Lila 124 40. Kapitel: sampatti-vicara {Erörterung des höchsten Reichtums} 133 8 9 Erstes Kapitel jiver nitya o naimittik dharma {Der ewige und der zeitweilige Dharma des Jiva} Jambudvipa -Asien -ist der wertvollste Erdteil. Indien -Bharatavarshaist das Wesentlichste an Asien. Von allen indischen Landschaften ist das Gaurland -die Gaurabhumi -die bedeutendste. Mittelpunkt und Herz des Gauralandes ist der heilige Weihekreis von Shri-Navadvipa. Am einen Ende des Weihekreises von Shri-Navadvipa leuchtet in ewiger Schönheit ein bezaubernder Ort -Shri-Godruma. In aller Zeit hausten im Wald um Shri-Godruma viele Einsiedler, die sich der Wonne liebender Gottesverehrung ergeben hatten. Nicht weit von der Stätte, an der früher Shri Surabhi, die göttliche Kuh, Gauracandra, den HERRN, angebetet hatte -es war eine Art Laube aus Schlingpflanzen -stand eine Hütte, für die Anbetung und den Dienst Gottes bestimmt. Sie hieß "Pradyumna-Kunja" oder die Laube Pradyumna's. In ihrer Nähe war eine andere, ganz unter dichtem Gebüsch versteckte Hütte -der Aufenthaltsort des heiligen Shri Prema-Das-Babaji-Mahashaya, der ein Paramahansa war, das heißt, er gehörte der höchsten Stufe des Mönchsordens an. Pradyumna Brahmacari war sein Lehrer gewesen, ein Parshadapravara des HERRN, also einer der edelsten Gestalten, die zum Kreise derer gehören, die dauernd beim Guru weilen und ununterbrochen an Seinem innergöttlichen Leben der Liebe teilnehmen. Premadas-Babaji verbrachte seine Tage in der Wonne liebender Gottesverehrung. Er war ein Pandit, ein Gelehrter, in allen heiligen Schriften wohl bewandert. Als er sich in die Einsamkeit zurückzog, war er nach Shri-Godruma gegangen. Er hatte nämlich erkannt, dass Shri-Godruma nichts anderes als Nandagrama ist. Sein Tageslauf war wohl eingeteilt. Zweihunderttausend Mal sang er den Namen Hari's. Mehr als hundert Mal warf er sich auf die Erde -zu Ehren aller Vaishnava-s. Seinen Leib fristete er von der Almosenspeise, die er in den Hütten der Gopa-s oder Hirten erhielt. (Madhukari, den Honigmacher, nennt man diese Art des Almosenganges, da der Mönch wie eine Biene aus vielen Blüten Honig sammelt, also vielen Hausbewohnern die Gelegenheit gibt, gutes Werk zu tun, das eben darin besteht, dass man als Mensch der Welt dem ausschließlich Gottergebenen die Hülle seines Leibes erhalten hilft.) War er mit diesem Tagesprogramm fertig, dann ruhte er aus. Ausruhen hieß für ihn nicht Verschwendung kostbarer Lebenszeit mit leerem Geschwätz -Dorfgewäsch. Er las vielmehr mit tränenfeuchten Augen den "Prema-Vivarta", das Werk des heiligen Shri Jagadananda. Aus den benachbarten Einsiedlerhütten kamen dann die Gottgeweihten und lauschten mit viel andächtiger Hingabe seiner Rezitation. Und mit Recht kamen sie. War doch der heilige Shri Jagadananda einer aus dem beständigen Gefolge des Guru. Sein Werk, der "Prema-Vivarta", enthält eine Darstellung des Wesens aller Rasa-s in ganzer Fülle. Und noch eins kam hinzu: lauschten sie dem honigreichen, wohltuenden Strom seiner Worte, so konnte das Feuer der Begierde nach den Dingen der Welt ihr Herz nicht verzehren. Eines Nachmittags hatte der heilige Paramahansa Babaji-Maharaj nach Beendung des Gesangs des heiligen Namens sich auf dem von Tulasi-und Jasmingebüschen umgebenen, schattigen Platz niedergesetzt und las den "Prema-Vivarta". Ins Meer der Verzückung war er getaucht. Da kam ein Asket daher, der dem vierten Lebensstadium angehörte. Er trat hinzu, warf sich dem Babaji zu Füßen und blieb wie ein Stock der Länge nach am Boden liegen. Vorerst war der heilige Babaji noch ganz in Gottesliebe versunken. Bald erwachte er jedoch zur Erkenntnis der Außenwelt und sah nun den Sannyasi Mahatma vor sich auf dem Boden liegen, mit allen acht Teilen seines Körpers die Erde berührend. In seiner Demut hielt der Babaji sich für niedriger als ein Grashalm. So fiel er dann vor dem Sannyasi auf die Erde, rief: "O Caitanya, o Nityananda! Gnade diesem Verworfenen!" und fing an zu weinen. Nach einer Weile redete der Sannyasi den heiligen Babaji mit geziemender Höflichkeit an und sagte: "Herr, ich bin so überaus armselig und bescheiden, warum treibt Ihr Euren Spott mit mir." Der Sannyasi nahm Staub von den Füßen Babaji Mahashaya's und setzte sich nieder. Babaji Mahashaya gab ihm als Sitz eine Matte aus Bananenrinde, setzte sich zu seiner Seite nieder und sagte mit stotternder Stimme, die das Zeichen des Erfülltseins von einem besonderen Grad von Gottesliebe, nämlich Prema, war: "Ist dieser armselige Mensch fähig, Euch zu dienen?" Der Asket stellte seine Kürbiswasserflasche beiseite und sagte mit zum Ausdruck seiner Demut vor der Brust aneinandergelegten wie zum Gebet erhobenen Händen: Babaji sagte mit großer Bescheidenheit: "O Mahatma, bleibt einige Tage in Pradyumna's Laube und heiligt mich!". Der Sannyasi erwiderte: "Ich habe mich ganz Euren Lotosfüßen hingeopfert. Warum ‚einige Tage'? Mein innigliches Gebet ist dies: Ich möchte bis zum Verlassen der irdischen Form Euch dienen dürfen." Der Sannyasi war ein guter Kenner aller heiligen Schriften. Ihm war wohl bekannt, dass man eine geraume Zeit in der Gurukula, das heißt der Gemeinschaft mit dem Guru oder Meister leben und von ihm in der Lehre unterwiesen werden muss. Mit größter Freude hauste er in jener Laube. Einige Tage später sagte der Paramahansa Babaji: "He 2 Mahatma! Shri Pradyumna Brahmacari Thakur hat mir seine Gnade geschenkt und mich bei seinen Lotosfüßen gehalten. Er hält sich jetzt in Shridevapalligrama auf, das im Weihekreis von Shri Navadvipa liegt. Er hat sich ganz in den Kult Shri Shri Nrisinha's versenkt. Wenn wir mit dem Almosengang fertig sind, wollen wir uns heute aufmachen, um den Darshana seiner Lotosfüße zu erhalten." Der Sannyasi sagte: "Was immer Ihr befehlt, das will ich ausführen." Es war schon zwei Uhr vorbei. Da setzten sie über die Shri-Alakananda und gingen nach Shri-Devapalli. Die Sonne war bereits untergegangen. Im Tempel des Shri Nrisinha-Deva durften sie die Lotosfüße Shri Pradyumna Brahmacari's, des ewigen Begleiters des Herrn, schauen. Aus der Ferne warf sich der Paramahansa Babaji Mahashaya zu Boden und begrüßte Shri Gurudeva, seinen Meister, indem er sich ihm zu Füßen warf, mit acht Gliedern den Boden berührend. Brahmacari Thakur wurde von liebender Zuneigung (vatsalya) zu dem Gottgeweihten erfasst. Er kam aus dem Tempel heraus, zog mit beiden Händen den Paramahansa Babaji zu sich empor, umarmte ihn, prema-überwältigt, und erkundigte sich nach seinem Wohlergehen. Ausführlich erzählte der Paramahansa Babaji dem Leiter der Gurufamilie, was er über den Sannyasi Thakur wusste. Brahmacari Thakur gab seiner Hochachtung Ausdruck und sagte: "Bruder, du bist zu einem wahrhaftigen Guru gekommen. Lerne bei Prema-Das den Prema-Vivarta!" Und er sang den folgenden Vers aus dem Caitanya-Caritamritam (II.8.127): "Brahmane (vipra) sei er oder Asket (nyasi), warum auch nicht Shudra -2 Sanskrit "he" bedeutet: Oh! Wer das Wesen Krishna's erkannt hat, der ist ein Guru." 3 Der Sannyasi Thakur fiel, mit achtfacher Bodenberührung zu Füßen des Meisters seines eigenen Meisters -{seines} Paramaguru -nieder und sagte: "O Herr, Ihr gehört zum dauernden Gefolge Caitanya's. Ein Strahlenblick Eurer Gnade kann hunderte von den Sannyasi-s wie ich einer bin heiligen. Seid gnädig!" Der Sannyasi Thakur hatte zuvor nicht gelernt, welche Sitten für das Benehmen der Gottgeweihten untereinander gelten. Er hatte aber beobachtet, wie der Meister und der Meister des Meisters sich benahmen. Er verstand, dass das heiliger Lebenswandel war. Und mit aufrichtigem Herzen, ohne Hintergedanken, benahm er sich in gleicher Weise zu seinem eigenen Guru. Nach dem Darshana des Abend-Aratrik, dem abendlichen Lichterschwingen vor der Gottheit im Tempel, kehrten sie nach Shri-Godruma zurück. Einige Tage später wünschte der Sannyasi Thakur Auskunft über Fragen, die das Wesen der Gottheit betreffen. Er war schon ganz wie ein Vaishnava. Nur sein Gewand war geblieben. Schon früher hatte er Beherrschung innerer und äußerer Sinne und volle Zuwendung zu Brahma-Gottheit sich erworben. Jetzt hatte darüber hinaus in ihm beharrliche Zuwendung zum innergöttlichen Leben Parabrahma's, der Über-Gottheit, Fuß gefasst. Damit zog auch Demut in sein Herz ein. Es war früh am Morgen. Die Morgendämmerung brach gerade an. Paramahansa Babaji hatte die körperliche Reinigung beendet. Er setzte sich auf die tulasiumwachsene Plattform und sang den heiligen Namen, die jeweilige Zahl mit Hilfe des Perlenkranzes festhaltend. Unaufhörlich rannen Tränen über sein Gesicht. Prema hatte ihn erfasst, dieweil er sich der Lila der Unterbrechung der Laubenspiele erinnerte. Allmählich schwand das Bewusstsein seines Körpers dahin, und er diente der Gottheit der jeweiligen Lila entsprechend. Er lebte ja ganz in der vollendeten Erkenntnis seines eigenen Urwesens. Der Sannyasi Thakur war ganz verzaubert. Er setzte sich neben seinen Meister und sah alle dessen Sattvika-Bhava-s, das sind die nach außen...