Eine documenta des Übergangs. Kann jeder heutige Mensch noch einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden? Catherine David, die Leiterin der "documenta X" im Gespräch mit Jürgen Müller und Dietmar Rübel (original) (raw)
In: Stehr, Werner (Hrsg.): Materialien zur Documenta X : ein Reader für Unterricht und Studium (Schriftenreihe des Documenta-Archivs ; 6). Ostfildern-Ruit 1997, S. 91-96
https://doi.org/10.11588/artdok.00001557
, die Leiterin der Documenta X<, im Gespräch mit Jürgen Müller und Dietmar Rübel Bevor Catherine David für die Konzeption des »Museums für 100 Tage« nach Kassel berufen wurde, war sie zunächst Kura torin am >Centre Pompidou< und seit 1990 an der >Galerie nationale de Jeu de Paume< tätig. Durch zahlreiche Ausstel lungen zur zeitgenössischen Kunst wußte die 43jährige Kunst historikerin immer wieder traditionelle Positionen der Bilder produktion zu hinterfragen und die künstlerische Praxis irri tierend in einen öffentlichen Kontext einzuflechten. Die ihrem Anspruch und Renommee nach wichtigste Ausstellung zur Gegenwartskunst ist die letzte documenta vor der Jahrtausendwende. Sie ist nicht als Fin-de-siecle-Schau ge plant, sondern versteht sich »als Ausblick, als Blick nach vorn«, wie die Französin sagt. Im folgenden Gespräch gibt Catherine David Auskunft über grundlegende Positionen, die ihre Kon zeption der >dX< bestimmt haben, und führt so in ihre vermit telnde Arbeitsweise ein. Die Traumwelt der Massenkultur Jürgen Müller/Dietmar Rübel: Welche Möglichkeiten bleiben heute einer politisch engagierten Kunst, muß d iese notwen d ig zur Me d ienkritik wer d en ? Catherine David: Nein, es ist vielmehr der politische Übereifer von dem zu sprechen wäre und, denn es ist klar, daß man sich nicht mehr wie in den fünfziger Jahren engagieren kann. En gagement findet unter anderen Bedingungen statt, und eine engagierte Kunst muß sich nicht zwangsläufig im Verfassen von Manifesten und Flugblättern äußern. Statt dessen sind viele Leute über große Zeiträume hinweg engagiert. Es gibt einen wunderschönen Satz von Brecht, der besagt, daß die Leute, die einen Tag Widerstand leisten, willkommen seien, die, die lange Zeit widerstehen, willkommener, aber erst die jenigen, die ihr ganzes Leben lang Widerstand leisten, seien unentbehrlich. M./R.: Es gibt einen hoffnungsvollen Satz in Walter Benjamins »Kunstwerk-Aufsatz«, wo es in bezug auf d ie mögliche Ver än d erung einer Kultur d er Rezipienten zu einer Kultur d er Pro d uzenten heißt: »Je d er heutige Mensch kann einen An spruch vorbringen, gefilmt zu wer d en.« Wie steht es um d ie sen historischen Optimismus, gibt es Reste d es Utopischen in d er heutigen Kultur?