Vanishing Pictures: E. A. Poes und Rodney Grahams intermediale Landschaften (original) (raw)

2010, Herbert Van Uffelen et al. (eds.): Literatur im Kontext. Ein gegenseitiges Entbergen, pp. 221-250

Ubertragungsprozesse in der Literatur implizieren stets zugleich Transfer und Kontext, jede Kontextualisierung bedeutet einen Transfer (und umgekehrt). Fokussiert man auf einen der Begriffe, wird daher unweigerlich der andere heraufbeschworen. Diese Bew.egung des gegenseitigen Entbergens, in der etwas gerade dann sichtbar wird, wenn man ,nicht hinschaut', wird anhand von Werken Edgar Allan Poes und Rodney Grahams illustriert, wobei zugleich das Erscheinen und Verschwinden verschiedener Medien in ihren Texten aufgezeigt wird. Wird bei Poe der Rezipient gerade durch die VelWeisung auf das Visuelle auf das Textuelle des Textes zurückgewoifen (eine Bewegung, die durch die vanishing pictures der biunialen Laterna Magica symbolisiert wird), so entzieht sich auch bei Graham in ein-und derselben Bewegung das, was gerade sichtbar wird, dem Blick; dies wird auf der Ebene der intertextuellen Bezüge, im Bereich der Medialität (Bild versus Text) und im Hinblick auf den ontologischen Status des Textes erläutert. To look at a star by glances -to view it in a side-Iong way [ ... ] is to behold the star distinctly. (Edgar Allan Poe) Ich rufe mir immer in Erinnerung, [ ... ] daß es manchmal, wie im Raum einer Camera obscura, notwendig ist, dem den Rücken zuzukehren, was man zu sehen hofft. (Rodney Graham) Mit Blick auf die Literatur (um sie ftir den Moment und nur aus heuristischem Grund als einen trennscharf definierbaren Komplex anzunehmen), mit Blick also auf die Literatur von Übertragungsprozessen zu sprechen, das zielt vermutlich immer zugleich auf "Transfer" und "Kontext". Den ersten mag man temporal, mithin als historische Überlieferung betrachten; auch kann er -nun vornehmlich spatial -die interkulturelle Kontaktnahme oder diejenige zwischen den so genannten Nationalliteraturen meinen. Desgleichen umfasst er wohl den Einfluss zwischen Autoren, 221 Ulrich Meurer bezeichnet alle Spielarten der Übersetzung und damit nicht zuletzt das, was RQman Jakobson "intersemiotische Translation" nennt. I Derweil richtet sich der zweite Begriff, stets im Sinne einer Dialektik oder gegenseitigen Reflexion, einerseits auf die Einbettung einer Passage in den Gesamtzusammenhang eines Schriftwerks und genauso auf jedweden Fall von Inter-Textualität. Andererseits benennt er die mannigfaltigen Bezüge zwischen einem Text oder gar der ganzen Sphäre des Literarischen und den zahlreichen ihnen angelagerten, an sie anschließenden, sie umgebenden außerliterarischen Felder -seien diese nun ihrerseits künstlerisch, artefaktisch, diskursiv fonniert oder aber einer als objektiv verstandenen ,Realität' zugehörig. Dass demnach aller "Transfer", aller sprachlicher oder kultureller Tausch, alle Tradierung oder Übersetzung nicht anders zu denken sind denn als Linie, die eine Mehrheit, mindestens jedoch eine Zweiheit von (Kon-)Texten durchläuft, dass umgekehrt jede "Kontextualisierung" einen Tra~sfer bedeutet, einen Übertrag nämlich von einem Dispositiv beziehungsweise einer ontologischen Ebene auf eine andere, scheint offenbar. Mehr noch: Nimmt man die beiden Konzepte getrennt in den Blick, so erweisen sie sich umso deutlicher als Symbionten, indem das eine unablässig nach dem anderen zu fragen beginnt. Deshalb bedarf es zunächst einer unmissverständlichen Geste der Scheidung und daraufhin einer gewissen analytischen Konzentration, um angesichts literarischer Übertragungsphänomene entweder auf deren Aspekt des Transfers oder aber auf denjenigen des Kontexts zu fokussieren. Und währenddessen tut -im Rücken solcher Analyse -der jeweils ,ausgeblendete' Aspekt seine Anwesenheit so beharrlich kund, dass es den Anschein hat, die Beschäftigung mit dem einen beschwöre den anderen herauf: Betrachte ich den Transfer, so gewinnt er vor allem im Feld der Kontexte an Kontur; betrachte ich den Kontext werde ich seiner als Transfer gewahr. Dieses Spiel des gegenseitigen Entbergens, das etwas sichtbar macht, wenn man nicht hinschaut, wenn man gerade etwas anderes betrachtet, entspricht eben der Bewegung, die im Folgenden an Edgar ABan Poe, an Rodney Graham und am Auf-und Abtauehen unterschiedlicher Medien in ihren Texten nachvollzogen werden soll. Am 9. Juni 1849 veröffentlicht die Zeitschrift Flag 0/ Gur Union den oftmals als letzte Erzählung Poes deklarierten Text Landor's Cottage -A Pendant to The I Intersemiotische Tra/lslation oder Transmutation ist nach Jakobson die Interpretation von Sprachzeichen durch Zeichen nonverbaler Systeme. Vgl. Jakobson 1959: 233. 222 Vanishing Pictures Domain 0/ Arnheim. 2 Bar aller herkömmlichen Handlung entwirft er das ästhetische Ideal einer fiktiven Landschaft, in deren Mitte sich das kleine, im holländischen Stil errichtete Wohnhaus von Mr. Landor befindet. Im Jahr 1987 erscheint daraufhin bei Yves Gevaert Editeur in Brüssel The System 0/ Landor's Cottage. A Pendant to Poe's Last Story des kanadischen Konzeptkünstlers Rodney Graham. Durch parenthetische Erweiterungen der knappen Erzählung Poes ist jetzt ein 300 Seiten starker Roman entstanden, der sich vom Außenraum und seinen Ansichten ins Innere des Cottages und in einen von Graham neu hinzugefügten sechseckigen Annex begibt, um dort jedes der: kuriosen Objekte, die in dieser eigenwilligen mineralischen Konstruktion ausgestellt sind, zum Anlass hypodiegetischer Auslassungen über seine Herkunft und Geschichte zu nehmen. 3