1. Die NATO-Bombardierung 1999 als ambivalenter Erinnerungsort und Erfahrungsraum (original) (raw)
2020, Die andere Seite der Intervention
Als ich vor zehn Jahren zum ersten Mal durch die Straßen Belgrads lief, war die Erinnerung an die NATO-Intervention allgegenwärtig. Die Narben der Bombardements waren nicht nur unverkennbar in das Stadtbild eingeschrieben, auch meine damaligen Bekanntschaften wurden nicht müde, mir von ihren Erfahrungen im Frühjahr 1999 zu berichten. Diese Berichte zeugten von der Angst, Kollateralschaden 1 zu werden, von den Entbehrungen des Alltags, von Tagen und Nächten ohne Strom, von einer Öffentlichkeit, in der abweichende Meinungen systematisch und mitunter gewaltsam unterdrückt wurden, von Eltern, die auf die Rückkehr ihrer Söhne warteten, und von Söhnen, die sich wochenlang versteckten, um nicht eingezogen zu werden. Sie zeugten aber auch von Zielscheiben auf der Brust als Widerstandsgeste gegen die Luftangriffe, von wilden Partys, langen Tagen und kurzen Nächten, von der Besinnung auf das engste soziale Umfeld, auf Familie, Freund*innen und Nachbar*innen, sowie von Emails als Tor zur Welt. Die von mir untersuchten Erzählungen der Bombardierung umfassten Langeweile ebenso wie Hedonismus, sie berichteten von singenden Patriot*innen, flüchtenden Familien und schweigenden Intellektuellen. Auf der einen Seite den NATO-Bomben sowie den Folgen des Krieges ausgesetzt, auf der anderen Seite mit einer durch Notstandsverordnungen erwirkten Stärkung der Machtposition Miloševićs kon-1 Kollateralschaden (collateral damage) ist ein militärischer Fachterminus, worunter in der räumlichen Umgebung eines Ziels entstehende, an sich unbeabsichtigte oder eventuell in Kauf genommene Schäden aller Art verstanden werden. Der Begriff wurde 1999 seitens der NATO für die durch die Angriffe verursachten zivilen Opfer verwendet und rief, wie ich an späterer Stelle der Arbeit zeigen werde, starke Kritik hervor. Ich möchte mir diesen nicht zu eigen machen, habe mich aber aus Gründen der Lesbarkeit dafür entscheiden, diesen und weitere umstrittene Begriffe bei der Erstnennung zu kennzeichnen, aber im weiteren Verlauf des Buches auf eine Hervorhebung zu verzichten.