Migration und Akkulturation. ,Verbrasilianerte' deutsche Protestanten im Kaiserreich Brasilien (original) (raw)
2021, Judith Matzke/Frank Metasch (Hg.), Nach Amerika! Überseeische Auswanderung aus Sachsen im 19. Jahrhunder
Brasilien verheißt Exotik und steht im allgemeinen Bewusstsein für Lebensfreude und Sinnlichkeit, für Tanz und Musik, für Karneval und afrikanische Rhythmen, aber auch für Wildheit und Chaos, Offenheit und Synkretismus. ‚Deutsche Protestanten in Brasilien' klingt daher wie eine contradictio in adjecto, erinnert ‚Deutscher Protestantismus' doch eher an lutherisches Arbeitsethos und preußischen Gehorsam, an wohlkomponierte Bach-Kantaten und ein Leben in Bescheidenheit und mit Maß als an tropische Ausgelassenheit und kraftvolle Kreativität. Genau diesen Gegensatz zweier unvereinbarer kultureller Konzepte hatte Ferdinand Schröder im Blick, als er 1936 seine kirchenhistorische Darstellung der deutschen protestantischen Einwanderergemeinden in Brasilien mit dem Titel "Brasilien und Wittenberg" veröffentlichte. 1 Dabei ist das Bild der deutschen protestantischen Einwanderergemeinden in seinem Werk einseitig von ihrer deutschen, ,zivilisierten' Seite her bestimmt. Dieselbe Sicht findet sich in dem Resümee, das der Leiter des Kirchlichen Außenamts der Deutschen Evangelischen Kirche, Bischof Theodor Heckel,-ebenfalls im Jahr 1936-zur Geschichte der protestantischen Gemeinden in Brasilien zieht: "Trotz unsäglicher Leiden, Wunden, Verluste, Wandlungen und Kämpfe-zuletzt ist diese Geschichte ein Ehrenbuch deutscher Volkskraft und evangelischen Kirchentums." 2 Die Gegenüberstellung von ‚deutschem Protestantismus' und ‚Brasilien' als sich ausschließender kultureller Systeme ist nun keineswegs-so könnte man meinendem nationalen Gedankengut geschuldet, das sich in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert ausbreitete und später seine unheilvollen Blüten trieb. Vielmehr vertritt auch die brasilianische Kultursoziologie bis auf den heutigen Tag das Konzept einer nationalen brasilianischen Kultur auf der Basis des hispanischen Kulturkatholizismus. Entwickelt wurde es 1933 von Gilberto Freyre in seinem klassischen Werk "Herren