Der hermeneutische Imperativ : Lebensgeschichte als religiöse Selbstauslegung (original) (raw)
Lebensgeschichte als religiöse Selbstauslegung Wonach fragen wir, wenn wir nach der Präsenz der Religion in der Lebensge schichte der Menschen fragen? Die Lebensgeschichte eines Menschen ist be kanntlich die zeitliche Abfolge seiner Erlebnisse und Handlungen einerseits und die Erzählung, mit der diese erinnert werden, andererseits. Jeder von uns hat eine Lebensgeschichte, und jeder von uns kann zugleich auch das eine oder andere davon erzählen. Und dabei ist die Geschichte, die einer hat, immer noch einmal mehr und anders als die, die er erzählen kann 1 • Wenn wir also nach der Präsenz der Religion in der Lebensgeschichte der Menschen fragen, meinen wir damit das Vorkommen religiös geprägter oder mo tivierter Erlebnisse und Handlungen in der Lebensgeschichte, die einer hat, oder meinen wir damit die Art der Deutung, in der einer sein Leben versteht oder in der sein Leben von anderen verstanden wird? Oder meinen wir beides, die faktische Prägung eines Lebens durch religiöse Orientierungs-und Verhaltensmuster und ebenso auch die Deutung, in der dieses Leben, wie es auch immer faktisch verlaufen sein mag, religiös verstanden wird? Hier zu unterscheiden ist jedenfalls nicht unwichtig, weil eben, wie leicht zu ersehen ist, das eine nicht dasselbe ist wie das andere. Eine Lebensgeschichte kann religiös verstanden werden, auch wenn sie in ihrem faktischen Verlauf keine Prägung durch religiöse Erfahrungen und Maximen erkennen läßt. Eine Lebens geschichte kann sogar auch dann noch religiös verstanden werden, wenn sie in dem, was sie von sich selber erzählt, gerade die Befreiung von den Sinnvorgaben und Wertsetzungen religiöser Sozialisation dokumentiert 2 • Es dürfte jedenfalls kaum genügen, die Präsenz der Religion in der Lebensge schichte des einzelnen über deren faktisches Vorkommen als Sozialisationsfaktor zu identifizieren. So oder so, wie religiös-kulturell geprägt oder religiös-kulturell