Identitätszwang und Judenhass: zur Gegenwart des Antisemitismus (original) (raw)
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Antisemitismus als antimodernes Ressentiment
Gesellschaft unter Spannung. Verhandlungen des 40. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2020, 2021
Allenthalben wird beklagt, die Soziologie vernachlässige die Antisemitismusforschung. Tatsächlich scheint eine Soziologie des Antisemitismus immer noch nur "in Fragmenten" vorzuliegen, wie etwa Heiko Beyer 2015 bemängelte (Beyer 2015). Das liegt-wie bei der Vorurteils-oder der Rechtsextremismusforschung-auch daran, dass benachbarte Disziplinen diese Felder teils wirkungsvoll besetzen. Im Falle Antisemitismus sind vor allem die psychoanalytische Sozialpsychologie und die Geschichtswissenschaft zu nennen. Soweit, so bekannt. Auch die Organisatorinnen dieser Ad-hoc-Gruppe stellen ein Defizit bei der Soziologie fest. Mein Ausgangsgedanke für diesen Vortrag ist, dass die Soziologie selbst als Reaktion auf die Moderne entstanden ist-und damit zeitgleich mit dem modernen Antisemitismus. Wenngleich sich die Soziologie dem Thema eher sporadisch genähert hat, ist ihr klassischer Gegenstand-die moderne Gesellschaft-allerdings aufs Engste mit dem Gegenstand Antisemitismus verbunden. Aus dieser Überlegung heraus will ich skizzieren, was man von den Klassikern des Faches lernen kann und was eine allgemeine Soziologie des Antisemitismus als Programm, nicht nur als individuelles Forschungsprojekt leisten könnte. I Zunächst verstehe ich den Antisemitismus mit Klaus Holz (2001) als Weltanschauung, aber gleichzeitig als Teil einer antimodernen Weltanschauung (siehe ausführlich dazu Kiess et al. 2020). Shulamit Volkov (Volkov 1978, 2006) konzipiert den Antisemitismus zudem als kulturellen Code, der für alles mit der Moderne Verbundene steht, etwa die Emanzipation der Jüdinnen und Juden, aber auch der Frauen, sowie für Industrialisierung, Globalisierung, Imperialismus oder allgemein den Fortschritt. Die "Identifikation von Modernität und Juden" ist dabei selbstverständlich nicht auf die Juden zurückzuführen, sondern mit "alte[r] Judenfeindschaft, Vorurteile[n] gegen die Minorität und Opposition gegen die Moderne überhaupt" zu erklären, so Nipperdey und Rürup (1972, S. 136). Dass gesellschaftliche Modernisierung und moderner Antisemitismus miteinander zusammenhängen, spiegelt auch die historische Entwicklung der Wortschöpfung und seine Bedeutung wider: Der
Prekäre Identitäten - Oder: Gibt es ein Wesen des Judentums? Updated January 2022
Arthur HERTZBERG, (in Zusammenarbeit mit Aron HIRT-MANHEIMER) Wer ist Jude? Wesen und Prägung eines Volkes. Übersetzt von Udo Rennert, München-Wien 2000, 55. "Die weitverbreitete Vorstellung" heißt es wenig später, "von der Einheit des Weltjudentums ist ein Mythos, den sich Antisemiten lange Zeit zunutze gemacht haben. (ebd., 56) 4 Vgl. Gregor HOFF, Die prekäre Identität des Christlichen. Die Herausforderung postModernen Differenzdenkens für eine theologische Hermeneutik, Paderborn 2001, 11 (dort auch der Hinweis auf Thomas MEYER).
Antisemitismus als weltanschaulicher Kitt
Stimme. Zeitschrift der Initiative Minderheiten, 2024
Spätestens seit dem Angriff der Hamas auf Israel, dem furchtbaren Massaker vom 7. Oktober 2023, und dem daraufhin weltweit steigenden Antisemitismus ist öffentlich bekannt, was die Forschung schon lange zeigt: Antisemitismus ist kein Alleinstellungsmerkmal der extremen Rechten.
Der große Unbekannte. Antijudaismus, Antisemitismus und die Suche nach Jesus von Nazaret
Concilium – Internationale Zeitschrift für Theologie, 2022
Die (Wieder-)Entdeckung der Tatsache, dass Jesus Jude war, hat die christliche Theologie seit Anfang des 18. Jahrhunderts sehr nervös gemacht. Wie konnte ein Jude, der der Tora treu war, Erlöser der Welt sein? Deshalb wandte sich die Theologie entweder grundsätzlich gegen das historisch-kritische Denken, das in der Zeit der Aufklärung aufkam, oder sie versuchte, die jüdischen Aspekte Jesu zu verbergen, indem sie Jesus „historisch“ als Gegner des Judentums konstruierte. Damit aber wurde vieles von dem, was Jesus von Nazareth dachte und wollte, unverständlich – bis in die Gegenwart. Um hier Abhilfe zu schaffen, braucht das Christentum dringend eine bessere Kenntnis des kulturellen Hintergrunds Jesu und des jüdischen Kontextes des Neuen Testaments.
Unbehagen im Abstrakten - Rechtskritik und Antisemitismus
2016
Das Abstrakte hat keinen guten Stand. In den verschiedensten Kontexten begegnet man dem Vorwurf, etwas sei "zu abstrakt". Auch über diesen Gemeinplatz hinaus scheint dem Abstrakten etwas Negatives anzuhaften. Ganz anders der Gegenbegriff: Das Konkrete wird in einer Vielzahl von Fällen affirmiert. Ein Ort an dem diese Opposition geradezu als Hauptmotiv auftritt, ist die Rechtskritik. So wird am Recht wiederholt dessen Abstraktheit kritisiert (seine Leere, Formalität, Allgemeinheit und Äußerlichkeit) und ihm stattdessen eine wie auch immer verstandene Konkretheit positiv entgegengehalten. Beunruhigend für jede progressive Rechtskritik muss aber die insbesondere in der europäischen Geistesgeschichte wiederholt diagnostizierbare Korrelation von Antisemitismus und Rechtskritik sein. Auffällig ist dabei die entscheidende Rolle, die jene Abstrakt-Konkret-Opposition für antisemitische Antijuridismus spielt. Als prägnantes Beispiel für eine solche Verbindung, soll hier Hegels Der Geist des Christentums und sein Schicksal dienen. Mittels Moishe Postones Analyse des modernen Antisemitismus und Eugen Paschukanis' Rechtskritik, soll anschließend der Versuch unternommen werden, die Verbindung von Judenhass und Gesetzeshass im Sinne einer materialistischen Erkenntnistheorie zu erklären. Dabei soll im Verlauf der Arbeit auch eine marxistische Rechtskritik umrissen werden. ! 1 Hegel: Mit dem Geist des Christentums gegen den ewigen Juden Anders als der Titel impliziert, handelt es sich bei Hegel's Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1798-1800) nicht nur um eine Abhandlung über religionsphilosophische 1 Fragen, sondern vielmehr um eine pointierte Darlegung sittlichkeitstheoretischer Überlegungen. Sie bildet das Kernstück der hegelschen Jugendschriften, die in der Frankfurter Zeit und somit vor der vollen Entwicklung seines späteren Systemgedankens entstanden ist. Obwohl zu Lebzeiten unveröffentlicht, wird sie in Fachkreisen für ein eine besonders klare philosophische Positionierung Hegels gehandelt , die dessen Angriffsstellung 2 gegen den Legalismus kantscher und fichtscher Prägung unverstellt und überaus deutlich zum Ausdruck bringen soll. Nun formuliert Hegel seine Attacke gegen die philosophischen Gegner nicht unmittelbar in philosophisch-theoretischer Form sondern über die Kritik an einer bestimmten Lebensform: Dem Judentum -bzw. das, was Hegel dafür hält. Diese Art der Kritik ist höchst problematisch, sollen doch nach Hegel "die Juden" als das "Volk" gedacht werden, an dem sich die ganze Falschheit eines Gemeinwesens verdeutlicht, das konstitutiv rechtsförmig verfasst ist. Theologisch-philosophische Argumente vermischen sich im Fortgang des Textes mit geschichtlich-religionssoziologischen Behauptungen. Impliziert wird, das faktische Schicksal der Juden sei das Ergebnis einer im Ganzen falschen ethischen Theorie und Praxis. 3 Werfen wir nun einen genaueren Blick auf die Argumentation des jungen Hegel. Fassen lässt sie sich als eine Variation des paulinischen Grundsatzes aus dem Brief an die Korinther: "Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig" (2. Kor 3,6). Entsprechend organisiert ist der Text um eine (im Vergleich zum späten Hegel ganz und gar undialektische) Entgegensetzung von Christentum und Judentum, die vor antisemitischen Klischees nur so strotzt: Grausamkeit und Feindseligkeit, Wucherei und Hinterlist sind die Attribute mit denen Hegel das Judentum