Leben aus dem Tod. Neutestamentliche Perspektiven auf Lebensfülle und Lebensminderungen (original) (raw)
In biblischer Perspektive lässt sich das Thema "Leben" von seinem Gegensatz, vom Tod her, in schärferen Konturen wahrnehmen. Diese Verhältnisbestimmung legt sich zum einen vom Neuen Testament her nahe. Was immer hier an Lebensphänomenen in den Blick gerät, steht meist in einer irgendwie gearteten Beziehung zum Todsei es zum menschlichen Sterben generell, sei es spezifisch zum Tod von Jesus Christus. Zum andern stellt die Relation von Leben und Tod auch eine gute Grundlage für das Gespräch mit dem Alten Testament bereit, wo die Todesthematik erst im Lauf einer längeren Entwicklung virulent wird. Grundsätzlich ist bei diesem Thema zu berücksichtigen, dass die Grenze zwischen Leben und Tod in der Antike anders verläuft als in unserer neuzeitlichen Perspektive. 1. Eine sachgemässe biblische Antithese? 1.1 Buch des Diesseits, Buch des Jenseits Das Verhältnis beider Teile des christlichen Kanons wird nicht selten so bestimmt, dass das Alte Testament ein Buch des Diesseits darstelle, das Neue hingegen ein Buch des Jenseits. So hat etwa Friedrich Nietzsche das "Zusammenleimen" der beiden Testamente als "vielleicht die grösste Verwegenheit und ‚Sünde wider den Geist', welche das literarische Europa auf dem Gewissen hat", bezeichnet. Hier im "jüdischen ‚alten Testament'" manifestiert sich ein Buch von "ungeheuren Überbleibseln dessen, was der Mensch einstmals war", dort im "neuen Testament, einer Art Rokoko des Geschmacks in jedem Betrachte", wo "sich viel von dem rechten zärtlichen dumpfen Betbrüderund Kleinen-Seelen-Geruch" findet, kündigen sich die "Prediger des Todes an" an, die "noch nicht einmal Menschen geworden" sind und die Vielen mit dem "'ewigen Leben' aus diesem Leben weglocken". 1 In jüngster Zeit hat Jan Assmann das Frühchristentum mit seinem Jenseitsglauben in scharfen Gegensatz zum Alten Testament mit seiner diesseitigen Orientierung an der Geschichte gestellt und geradezu als Rückkehr nach Ägypten gefeiert. Die christlichen Grundüberzeugungen von der Unsterblichkeit der Seele und einer jenseitigen Vergeltung sind "von Ägypten aus in die christliche Religion eingedrungen". 2 Will man die Antithese zuspitzen, so wirkt die nüchterne Diesseitigkeit des Alten Testaments geradezu unheimlich modern, während sich im Neuen Testament die spätantike-mittelalterliche Verneinung des vorfindlichen Lebens zugunsten des Himmels und Jenseits ankündigt. Die Schwächen der so skizzierten Antithese liegen auf der Hand. Nicht wenige alttestamentliche Texte belegen, wie Israel zunehmend Gottes Treue auch über die Todesschwelle hinweg festzuhalten sucht, um schliesslich ausgreifende apokalyptische Visionen zu ent-1