Von "Opfern" und anderen Überlebenden. Anerkennung der Verfolgungserfahrung und ihre Bedeutung für Über-Lebensgeschichten, in: Imke Hansen et al. (Hg.): Ereignis und Gedächtnis. Neue Perspektiven auf die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Berlin 2014, 85-105. (original) (raw)
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Eisenach, April 1945. Unmittelbar vor der Abfahrt eines Repatriierungskonvois sitzen befreite französische Buchenwald-Häftlinge spätnachts um einen Wirtshaustisch und debattieren darüber, in welcher Form die Lagererfahrung der Deportierten wohl am adäquatesten zu vermitteln sei. Während die Mehrheit der Deportierten darauf pocht, dass die Dinge nun so erzählt werden müssten, ‚wie sie waren', plädieren Semprún und ein Straßburger Professor für die ‚gute Erzählung' der Geschichte, für eine durchaus fik-tive und literarische Form des Erzählens. " Nötig wäre eine Fiktion, aber wer wird sich trauen? […] Es bleiben die Bücher. Vor allem die Romane. Zumindest die literarischen Berichte, die über die bloße Zeugenaussage hinausgehen und eine Vorstellung wecken, auch wenn sie nichts zeigen. … Vielleicht wird es eine Lagerliteratur geben … Ich sage: eine Literatur, nicht bloß Reportagen …" Die Szene entstammt, eindrücklich geschildert, Jorge Semprúns Roman Schreiben oder Leben. Semprún grenzt Literatur dabei von jeder Geschichtsschreibung und insbe-sondere Soziologie ab – sein Vorbild ist Kafka, dessen Betrachtungen der Bürokratie gerade deshalb zeitlos seien, weil sie "in dem ihm eigenen Register, dem der Literatur und nicht der soziologischen Analyse", verfasst seien. Die Soziologie ist das große Andere der Erzählung. Und dennoch ist es ein späterer Soziologe, zuständig für einen „Gesamtbericht über das Leben und Sterben in Buchenwald“, mit dem Semprún das Problem der Darstellung im befreiten Buchenwald diskutiert...
Der Band präsentiert die Ergebnisse des 16. Workshops zur Geschichte der Konzentrationslager. Die Beiträge untersuchen nationalsozialistische Lager samt ihrer Nachgeschichte, ihrer Wirkung auf Biografien und gesellschaftliche Diskurse. Sie nehmen Lebensläufe von Überlebenden, von Orten und Geschichtsbildern aus einer wahrnehmungs- und erfahrungsgeschichtlichen Perspektive in den Blick. Die Konfrontation von Ereignis und Gedächtnis, von Erfahrungen und Erinnerungen gewährt neue Einsichten in ein wissenschaftlich, gesellschaftlich und politisch bedeutendes Forschungsfeld
Bevor wir etwas über die Narrativik der Geschichten der Opfer vor der Wahrheits-und Versöhnungskommission sagen können, muß zunächst einmal geklärt werden, wer zu den Opfern zählt. Die Kommission unterscheidet zwischen primären Opfern, deren Menschenrechte direkt verletzt worden sind und sekundären Opfern, wo ein Familienmitglied im Kampf gegen die Apartheid getötet wurde und wo sich nun die Frage stellt, wer die Entschädigung erhält. Das setzt bereits voraus, daß Südafrika nach der Apartheid wieder in die internationale Gemeinschaft der Unterzeichner der Genfer Konvention der Menschenrechte aufgenommen wurde, für die die Apartheid als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit galt. Gleichzeitig mußte die Wahrheits-und Versöhnungskommission aber die Grundlage schaffen, auf der der Aufbau solcher fundamentalen Rechte wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde, Meinungsfreiheit, ein Recht auf Bildung und Arbeit gewährleistet werden konnte. Während die demokratische Wahl also die politische Arena für das Ende der Apartheid schuf, bewerkstelligte dies die Wahrheitskommission auf der moralischen Ebene. Mit ihr sollte ein Respekt für das Gesetz und Menschenrechte in einem friedlichen, demokratischen Staat erstmals hergestellt werden.
Stichproben. Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien, 2023
„Mehr Respekt. Mehr Offenheit. Mehr Zuhören. Das neue Erinnern“ – dieser Appell auf der Rückseite des Buchcovers zieht sich durch das neueste Buch der deutschen Publizistin und Auslandsreporterin Charlotte Wiedemann. Sie nimmt ihre Leser:innen auf eine sehr persönliche Reise durch die Welt und Weltgeschichte mit und lässt sie an ihren klugen Beobachtungen und Erkenntnissen teilhaben. Von Beginn weg benennt Wiedemann eigene vormals blinde Flecken, die ihr im Lauf von Jahrzehnten intensiver Auseinandersetzung mit Geschichte und Gesellschaften in unterschiedlichen Weltgegenden mehr und mehr bewusst wurden. Das Kapitel „Unfreie Befreier. Über Krieg und Kolonialität“ etwa beginnt mit ihrer Erinnerung an den Moment, als ihr in Mali jemand „ein Foto von Schwarzen Soldaten in einem schneebedeckten Schützengraben“ (S. 15) zeigte. Da wurde ihr klar, dass auch afrikanische Soldaten gegen das nationalsozialistische Deutschland gekämpft hatten. Das war ihr bis zu diesem Zeitpunkt trotz intensiver Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus nicht bewusst gewesen. [...]