Wahrnehmung und Wissen als Untersuchungsdimension: Kognitive Medizinanthropologie (original) (raw)

Anthropologie der Wahrnehmung

Interdisziplinäre Anthropologie, 2014

Der Beitrag stellt die menschliche Sinneswahrnehmung als bevorzugten Forschungsgegenstand einer interdisziplinären Anthropologie vor. Ausgehend von einer Absage an den Essentialismus und Dualismus der klassischen Anthropologie werden Ansätze einer holistischen Anthropologie umrissen und auf die Untersuchung des menschlichen Wahrnehmungsvermögens bezogen. Schließlich wird das Wahrnehmungsthema auf die Problematik der Farbwahrnehmung enggeführt. Der Beitrag vollzieht nach, wie die Farbwahrnehmung physiologisch, sensomotorisch, intersubjektiv und kulturell verkörpert ist, und vertritt die Thesen, dass erstens diese Verkörperungsebenen in einer Wechselbeziehung stehen und zweitens in dieser Wechselbeziehung Leib, Geist und Welt unhintergehbar trianguliert werden. In diesem Sinne kann mit Hilary Putnam von einem "threefold cord" gesprochen werden, der Leib, Geist und Welt in der Wahrnehmung unlöslich miteinander verflicht.

Wahrnehmungsgehalte und begriffliche Kapazitäten. Eine enaktiv-anthropologische Forschungskontroverse

2019

Wahrnehmungsgehalte und begriffliche Kapazitäten. Eine enaktiv-anthropologische Forschungskontroverse Einleitung Seit der Begründung des Enaktivismus durch Francisco Varela, Eleanor Rosch und Evan Thompson hat der starke verkörperungstheoretische Ansatz eine vielfältige Weiterentwicklung erfahren. 1 So gibt es neben dem autopoetischen Enaktivismus, der in seiner naturphilosophischen Fundierung maßgeblich von Hans Jonasʼ Theorie des Organismus beeinflusst ist, auch den sensomotorischen Enaktivismus, bei dem die wechselseitige Verbindung von Handeln und Wahrnehmen im Zentrum der Untersuchung steht. 2 Diese enaktiven Ansätze sind sowohl strukturlogisch miteinander verbunden, als auch immer wieder faktisch aufeinander bezogen worden Nichtsdestoweniger werden sie aber auch häufig unabhängig voneinander vertreten. Dies gilt auch für die Einbeziehung der Phänomenologie, deren Stellenwert im Enaktivismus höchst unterschiedlich bewertet wird. Für die Vertreter des in den letzten Jahren immer stärker in den Vordergrund getretenen radikalen Enaktivismus lässt sich z. B. festhalten, dass phänomenologischen Forschungsansätzen nur geringe bis gar keine Bedeutung beigemessen wird. Wie gezeigt werden soll, basieren diese Unterschiede keineswegs auf kontingenten Voraussetzungen oder Präferenzen. Gemeinsam ist den Theorieansätzen die Ablehnung des Repräsentationalismus in den klassischen Kognitionswissenschaften und der Philosophie des Geistes. Doch könnten die daraus gezogenen Konsequenzen kaum unterschiedlicher sein. Im Rahmen dieses Aufsatzes soll jener Sachverhalt an den unterschiedlichen Bestimmungen des Wahrnehmungsgehaltes im sensomotorischen und radikalen Enaktivismus aufgezeigt werden. Meine These lautet, dass die divergierenden Zugänge zum Gehalt der Wahrnehmung letztendlich zu ganz unterschiedlichen Auffassungen im Hinblick auf das Wahrnehmungsund Begriffsvermögen des Menschen führen. In einem ersten Schritt wird deshalb die Kritik des radikalen Enaktivismus an versteckten Formen des Repräsentationalismus im klassischen (sensomotorischen) Enaktivismus erläutert und dessen Gegenentwurf einer Theorie der 1 Varela, Thompson, Rosch: The Embodied Mind, 1991. Der Ausdruck ‚starker verkörperungstheoretischer Ansatz' bedeutet, dass mentale Vorgänge oder Prozesse nicht einfach nur im Gehirn realisiert sind, sondern dass weitere Bereiche des Körpers hierzu nicht nur einen kausalen Beitrag leisten, sondern auch eine konstitutive Rolle spielen. Menary: Mathematical Cognition -A Case of Enculturation, 2015, S. 2.

Zwischen Phänomenologie und Kognitionswissenschaft: der Begriff ‚Wahrnehmung‘ bei Luhmann

Einleitung Der Vortrag verbindet zwei theoretische Ansätze, um das Thema der Wahrnehmung bei Luhmann zu fokussieren, und zwar die Phänomenologie und die Kognitionswissenschaft. Auf diese Weise wird gezeigt, dass der Begriff der Wahrnehmung sich nicht nur auf Probleme der psychischen, sondern auch auf diejenigen der sozialen Systeme anwenden lässt. Ausgehend von der Beobachtung, dass Luhmann dazu neigt, die psychischen Systeme mit denselben Begriffen zu beschreiben, die er zur theoretischen Betrachtung über die sozialen Systeme entwickelt, schlage ich vor, dass der Begriff der Wahrnehmung -im Unterschied zur Kommunikaton-die besonderen Merkmale des Bewusstseins umfasse. So werden einerseits die Unterscheidungen im Rahmen der Wahrnehmung als Einheit behandelt, während die Kommunikation die Unterscheidungen als solche kennzeichnet: Das wahrnehmende Bewusstsein achtet auf etwas, was in einer diffusen Einheit mit der Umgebung steht, wohingegen die Kommunikation deutlich Information und Mitteilung unterscheidet. Andererseits läuft die Kommunikation anhand einer sequenziellen Reihenfolge ab, während für die Wahrnehmung verschiedene Informationen gleichzeitig anwesend sind. Darüber hinaus werde ich beschreiben, dass im Vergleich mit den sozialen Systemen, die sich mit dem Problem der sozialen Ordnung beschäftigen, die Funktion der psychischen Systeme, diejenige ist, eine externe Welt aufzubauen. Selbst wenn diese Welt nicht kommunikativ ist, ist sie aufgrund reflexiver Wahrnehmung sozial. Alle Formen kommunikativer und nicht-kommunikativer 1 Vorgetragen an der Universität Luzern am 19. November 2013.

Konturen einer "Epistemologie des Verstehens" (Rez. Ammon, Wissen verstehen)

Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 2010

Sabine Ammon, Wissen verstehen. Perspektiven einer prozessualen Theorie der Erkenntnis, Weilerswist: Velbrück 2009, 208 S., ISBN 3-938808-74-8, 24,90 € Wer heute Theorie der Erkenntnis betreibt, sieht sich mit Einwänden konfrontiert, die nicht nur die Erreichbarkeit von Gewissheit betreffen, sondern durchaus auch in die Empfehlung münden, die Geschäfte besser ganz aufzugeben. Einwände gegen das Projekt der Erkenntnistheorie als solches sind seit Hegels Phänomenologie bekannt; im 20. Jahrhundert sind entsprechende Töne auch in der analytisch geprägten Philosophie laut geworden, besonders prominent durch Rorty. 1 Anfangs noch durch den Erkenntnisoptimismus der logischen Empiristen geprägt, hat man sich in der angloamerikanischen Debatte mehr und mehr vom "Mythos des Gegebenen" (Sellars) verabschiedet. Erkenntnistheorie, begriffen als Neuauflage einer Suche nach Gewissheit, hatte spätestens damit ein Ende; die Standards mussten auf Menschenmaß zurückgeschraubt werden. Doch letztlich betreffen die Argumente, auf die Rorty sich berufen kann, wenn er sich gegen das Denken der "Spiegelmetaphorik" wendet, nicht nur bestimmte falsche Antworten, sondern die ganze Perspektive, in der erkenntnistheoretische Fragestellungen aufkommen: Wer nach Kenntnissen fragt, die einen Status besonderer "Welthaltigkeit" für sich beanspruchen können, scheint zugrundezulegen, dass geistige Wesen "Repräsentationen" verwenden, vermittels derer sie sich auf die Welt beziehen. Wie sich mit Autoren wie Hegel, Heidegger oder dem späten Wittgenstein aber zeigen lässt, bleibt unser Weltbezug in so einem Beschreibungsrahmen notwendig unverständlich. Fasst man die Theorie der Erkenntnis so auf, dass man auf solche repräsentationalistischen Annahmen angewiesen bleibt, ist offenbar nicht nur ihre fundamentalistische Ausprägung, sondern das ganze Projekt am Ende. Was es also braucht, ist eine gründliche Erneuerung. Diese Richtung ist es, die Sabine Ammon in ihrem Buch Wissen verstehen einschlagen will: In Auseinandersetzung mit den Kritiken, die die erkenntnistheoretischen Unternehmungen im 20. Jahrhundert auf sich gezogen haben, will die Autorin einige Instandsetzungsmaßnahmen durchführen und Perspektiven einer gemäßigten Form der prozessualen Erkenntnistheorie aufzeigen. Ihr Vorschlag gestaltet sich entlang der Begriffe "Wissen", "Verstehen" und "Erkenntnis". In aller Kürze lässt er sich

Der ärztliche Erkenntnis- und Handlungsprozeß: ausgewählte Ergebnisse einer empirischen Studie

1996

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Wissen, Sinne, Emotionen – Synästhesie als Projektionsfläche zwischen Kunst, Medien und Wissenschaft

arbeitstitel | Forum für Leipziger Promovierende

Synästhesie lässt sich nicht nur als eine neurologisch-anatomische oder physiologische Anomalie der Wahrnehmung beschreiben, sondern scheint weit mehr zu sein - von künstlerischer Lebenseinstellung bis hin zum Instrument der Infragestellung herrschender wissenschaftlicher Modelle und Paradigmen. Doch woher kommt dieses Potential der Synästhesie, das Wissenschaftler ebenso wie Künstler seit über 100 Jahren beschäftigt und fasziniert? Dieser Frage soll aus kulturwissenschaftlicher Perspektive nachgegangen werden, die in der einschlägigen Forschung zur Synästhesie bisher unterbelichtet ist. Der Beitrag versucht, Ansätze zu einer Beschreibung der Synästhesie als Projektionsfläche der Moderne bzw. Postmoderne zu entwickeln und das Phänomen vor dem Hintergrund des Wandels und der Umstrukturierung von Wissenskulturen zu betrachten, wobei nicht beantwortet werden soll, was Synästhesie ist, sondern vielmehr, was sie im Zuge von Prozessen der Neustrukturierung von Wissens- und Wahrnehmungskon...

DIE NEUE ABTREIBUNGSDISKUSSION Zur Auseinandersetzung mit Konzepten der analytischen Ethik in der Medizin

Verantwortung für das Leben, 1993

Zeitgleich mit der Regelung im Einigungsvertrag, die für eine Übergangsfrist auf dem Gebiet der neuen Bundesländer eine Weitergeltung der 1972 in der ehemaligen DDR eingeführten Fristenregelung zum Schwangerschaftsabbruch vorsieht, wird die öffentliche Diskussion um die sittliche Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs um eine Komponente ergänzt, die für die Bundesrepublik neu ist und eine nähere Betrachtung verdient: Es geht um moralphilosophische Argumentationen in der Abtreibungsfrage, die von sich behaupten, «weltanschauungsfrei» zu sein: auf der Basis eines sprachanalytischen Ethik-Konzeptes im Gefolge des klassischen Utilitarismus bestreiten sie einerseits die Letztbegründungsmöglichkeit von Ethik überhaupt offensiv und sprechen andererseits den klassischen Argumenten in der Abtreibungsdiskussion, insbesondere der kombinierten Argumentation (a) mit der Kontinuität der embryonalen und fötalen Entwicklung und (b) mit der Potentialität des Fötus, Gültigkeit ab.

Unterschiedliche Wahrnehmungen als gravierendes Hemmnis im „Wissenstransfer“ zur Tiergesundheit

2015

Im Mittelpunkt einer aktuellen Studie stand die Identifikation potentieller Hemmnisse im Prozess eines zielfuhrenden „Wissenstransfers“ im Zusammenhang mit den erforderlichen Verbesserungen des Tiergesundheitsstatus auf landwirtschaftlichen Betrieben. In dem stakeholder- orientierten Vorhaben wurden die Perspektiven von Vertretern verschiedener Interessensgruppen mithilfe von Instrumenten der Kommunikationswissenschaften reflektiert. Die Ergebnisse ergaben erhebliche Unterschiede in der Wahrnehmung und Beurteilung von Tiergesundheit. Die bisherige Konzeption und Organisation des „Wissenstransfers“ in Form eines „Technologietransfers“ ist im Kontext der Tiergesundheit nicht zielfuhrend und bedarf einer grundlegenden Revision, sofern der Transfer zu einer Verbesserung der Situation beitragen soll. Ausgangspunkt und Voraussetzung fur Verbesserungen ist die Festlegung von Zielgrosen (z.B. zulassige Pravalenzraten von ausgewahlten Produktionskrankheiten), welche allen Stakeholder-Gruppen...