Die doppelte Artikulation von Code und Politik in Facebook (original) (raw)
Der Zuwachs an sozialen Netzwerken im Internet, die es den Nutzern ermöglichen, Inhalte zu erstellen, soziale Bindungen zu entwickeln und aufrechtzuerhalten sowie an Diskussionen über öffentliche Fragen teilzunehmen, hat in den Mainstreammedien wie in akademischen Kreisen die große Hoffnung geweckt, basisdemokratische Formen der Partizipation der Bürger an öffentlichen Angelegenheiten ließen sich so wiederbeleben. Neben Twitter hat Facebook sich zu einem wichtigen politischen Ort weltweit entwickelt, insbesondere in den jüngsten politischen Aufständen in arabischen Ländern, allen voran in Ägypten. Während der US-Präsidentschaftswahlen 2008 hatte die Facebook-Gruppe von Barack Obama über 1,2 Millionen Unterstützer. Facebook ist zu einer zentralen Komponente für den politischen Aktivismus und für Kampagnen auf globaler wie lokaler Ebene geworden, und zwar nicht nur als Instrument, um politische Diskussionen online zu organisieren, sondern vielleicht vor allem als Medium, durch das sich die politische Kommunikation in politische Aktion (Demonstrationen, Versammlungen, Treffen) umwandeln lässt. Facebook ist scheinbar als ein Raum entstanden, in dem eine Öffentlichkeit erreicht und informiert werden und in einen Dialog eintreten kann, um Fragen von allgemeinem Interesse zu diskutieren und die politische Entscheidungsfindung zu beeinflussen. Eine derartige Beschreibung, die die Vorstellung von "issue publics" (Lippmann 1925) im allgemeinen theoretischen Kontext der Öffentlichkeit (Habermas 1962) wiederbelebt, scheint auf einen generellen optimistischen Diskurs hinzudeuten, der nutzergenerierte Inhalte und soziale Onlinemedien mit demokratischer Partizipation gleichsetzt. Doch solche unkritischen Schlussfolgerungen sind theoretisch wie empirisch fragwürdig. Während es Facebook zweifellos jedem mit uneingeschränktem Zugang zum Internet ermöglicht, sich zu artikulieren, bedeutet dies nicht, wie wir in diesem Kapitel darlegen werden, dass es de facto eine radikale Demokratisierung des politischen Aktivismus bewirkt. Das heißt, Facebook und generell alle Social-Networking-Plattformen können nicht als neutrale und transparente Kanäle vielfältiger politischer Willensäußerungen betrachtet werden. Vielmehr verkompliziert die Logik der Plattform an sich -von der Informationsverarbeitung bis zu ökonomischen Prioritäten -Bildung, Organisation und Management dessen, was wir als politischen 2 Aktivismus verstehen, insbesondere die Konstitution politisch beteiligter Öffentlichkeiten in verschiedenen Zusammenhängen. Angeregt von Deleuze und Guattari (1992), untersuchen wir die Konstitution von Öffentlichkeiten in Facebook als Ergebnis mehrerer Prozesse der doppelten Artikulation von Code und Politik, die neue Bedingungen und Möglichkeiten des politischen Handelns und der politischen Kommunikation definieren. Wir definieren die doppelte Artikulation als das Ensemble von Prozessen, durch die politische Akteure und Interessen Code (Online-Plattformen, Software, Netzwerke, Informationsdynamiken usw.) mobilisieren und darin investieren, während gleichzeitig der Code die Politik (politische Diskurse, politische Bewegungen und Akteure usw.) nach einer spezifischen Informationslogik formalisiert und gestaltet. Aus der Sicht der doppelten Artikulation entstehen Online-Öffentlichkeiten und -Themen aus dem Verlinken, Sammeln, Verbinden und damit Hybridisieren verschiedener Code-und Politikelemente und Akteure. Wir untersuchen die Konstitution politischer Öffentlichkeiten in Facebook, indem wir deren Dynamiken auf drei Ebenen analysieren: Die erste Ebene betrifft die Dynamiken der Öffentlichkeit, die in einer ich-zentrierten Plattform an der Nutzerschnittstelle auftreten, die zweite Ebene fokussiert auf die Dynamiken der Informationsrepräsentation, durch die spezifische politische Strategien entwickelt werden, und die dritte Ebene untersucht die Facebook-Programmierschnittstelle (API) und insbesondere die methodologischen Herausforderungen im Umgang mit Back-end-Architekturen, die in einer Black Box verborgen sind. Die erste Fallstudie befasst sich mit der Entwicklung von Facebook-Gruppen im Zusammenhang mit der Provinzialwahl in Ontario 2007. Die zweite Fallstudie untersucht die Kontroverse um die »Great Canadian Wish List«, ein Facebook-Event, das vom kanadischen Rundfunk (der Canadian Broadcasting Corporation, kurz CBC) im Sommer 2007 gestartet wurde. Die dritte Fallstudie befasst sich erneut mit der Provinzialwahl in Ontario 2007, untersucht aber die Konstitution von Öffentlichkeiten durch die Back-end-Architektur und Datenbank von Facebook. Wir hatten nicht den Anspruch, mit diesen Fallstudien definitiv zu klären, welche Rolle Facebook-Gruppen bei der Gestaltung politischer Kampagnen und öffentlicher Diskurse spielen, vielmehr wollen wir zum Nachdenken über die neuen Bedingungen anregen, durch die Öffentlichkeiten online entstehen. Die Untersuchung der doppelten Artikulation von Code und Politik in der Formierung von Facebook-Öffentlichkeiten beweist, wie notwendig es ist, sich weniger auf den Inhalt öffentlicher Online-Diskussionen zu konzentrieren, als auf die Modalitäten der Existenz einer 3 Öffentlichkeit. Zwar ist die heterogene Konstitutierung von Öffentlichkeiten und Fragen von allgemeinem Interesse bereits durch den Ansatz der issue publics (Marres 2005, 2007) untersucht worden, was wir zeigen wollen ist jedoch, dass nicht nur die Bildung von Öffentlichkeiten untersucht werden muss, sondern auch das Vernetzen von Öffentlichkeiten durch Online-Softwareplattformen. Die Erforschung vernetzter Öffentlichkeiten greift zurück auf Maurizio Lazzaratos (2004) postmarxistische Überlegungen zur Art und Weise, wie immaterielle Arbeit samt den damit verbundenen Kommunikationsprozessen dazu dient, Machtverhältnisse zu organisieren, indem die Bedingungen für das Entstehen spezifischer sozialer Beziehungen und Horizonte der Subjektivierung in Kontrollgesellschaften vorgeschlagen, systematisiert und festgelegt werden. Facebook aus der Sicht der doppelten Artikulation Aus einer wissenschaftlichen Perspektive stellt das Verständnis der Rolle sozialer Netzwerke im Internet eine methodologische Herausforderung dar. Technisch gesehen ist es ungeheuer schwierig, Informationen in privaten Online-Räumen zu verfolgen, die komplexe und verschlossene Architekturen entwickelt haben. Theoretisch liegt die Herausforderung primär darin, die Besonderheit sozialer Netzwerkseiten als Assemblagen zu verstehen, in denen Softwareprozesse, Muster der Informationsverbreitung, kommunikative Praktiken, soziale Praktiken und politische Kontexte sich im Zusammenspiel artikulieren und gegenseitig neu definieren. Insbesondere gilt es zu untersuchen, wie verschiedene Elemente und (menschliche und nichtmenschliche, informative, kommunikative und politische) Akteure mobilisiert und auf spezifische Weise artikuliert werden, um spezielle Formen von Öffentlichkeit und öffentlichem Diskurs zu gestalten. Die Herausforderung besteht darin, dass Elemente, die von der Wissenschaft der politischen Kommunikation traditionell ignoriert wurden, wie Web-2.0-Unternehmen, Softwareprozesse und Informationsarchitekturen, nunmehr eine zentrale Rolle dabei spielen, wie die materiellen Existenzbedingungen von Online-Öffentlichkeiten geschaffen werden und wie der Rahmen für politische Online-Praktiken gebildet wird. Das heißt, diese Elemente übertragen nicht einfach einen öffentlichen Willen ins Internet -sie transformieren auch die öffentliche Diskussion und regeln, dass und wie ein Publikum entsteht, indem sie spezifische Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der Online-Nutzung 4 durchsetzen. Somit besteht die Herausforderung nicht einfach darin, neue Kommunikationspraktiken und ihre Auswirkungen auf den Inhalt der öffentlichen Diskussion zu ermitteln, sondern zu verstehen, wie das Aufeinandertreffen von Kommunikationstechnologien und politischen Prozessen neue Bedingungen für das Entstehen von Fragen allgemeinen Interesses und ihrer Öffentlichkeiten schafft. Ein großer Hype umgibt das demokratische Potenzial von Web-2.0-Plattformen als sozialen Produktionsmitteln (Benkler 2006) zur Nutzung kollektiver Intelligenz, die es den Nutzern gestatte, sich unter Umgehung traditioneller Medien auszudrücken (Jenkins 2006) und einen Zugang zu einem Informationsreichtum über öffentliche Fragen zu ermöglichen. Das Aufkommen von Blogs, Wikis und anderen nutzergenerierten Inhalten und kollaborativen Plattformen, heißt es, habe die Beziehungen zwischen Bürgern, Politik und Medien grundlegend verändert (Bruns 2005, 2008). Auf der anderen Seite werden aber auch Bedenken geäußert, was Privatsphäre und Überwachung angeht, sowie die Frage, ob sich die Dynamiken von Information und Kommunikation kontrollieren lassen. Insofern werden optimistische Äußerungen über eine Erneuerung des öffentlichen Dialogs und Austauschs in sozialen Netzwerken im Internet relativiert (Albrechtslund 2008, boyd 2008, Petersen 2008, Scholz 2008). Diese Bedenken unterstreichen, dass die Software-und die Informationsarchitektur von Web-2.0-Seiten neue Formen von Kontrolle entstehen lassen. Diese neuen Dynamiken der Kontrolle sollten nicht nur auf Aspekte wie Überwachung und Privatsphäre hin befragt werden, sondern auch hinsichtlich der kulturellen Erfahrung als Nutzer sozialer Online-Netzwerke. So sind zum Beispiel die Informationsprozesse, die gerade die Nutzungserfahrung auf Facebook gestalten -ständige Personalisierung, automatische