Die Wirklichkeit der Rede. Zur Prosaliteratur von Kathrin Röggla (original) (raw)

Predigt als ‚Stimme der Wahrheit‘. Irritationen in Zeiten großer Regression

Standpunkt. Zeitschrift des Evangelischen Bundes in Österreich, 2018

Die Rede von der Predigt als „Stimme der Wahrheit“ ist kirchlich en vogue. Gerade die „politische Predigt“ wird häufig als „Stimme der Wahrheit“ konzipiert. Es wäre voreilig, von einem homiletischen Wahrheitsboom zu sprechen, von dem man sich politische Wirksamkeit verspricht. Dass sich Anzeichen für die semantische Koppelung von Predigt, Wahrheit und Politik im Zeichenensemble unserer Glaubenskultur mehren, kann aber nicht mehr ignoriert werden.

Die Begründung falscher Rede. Platon und Protagaras

»Die Begründung falscher Rede. Platon und Protagoras«, in: »Dichter lügen«. (Philosophisch-literarische Reflexionen; 3) (Hg.) Schmitz-Emans, Monika – Röttgers, Kurt. Essen 2001, S. 89-106, 2001

Es kann als eine der wichtigsten sprachphilosophischen Einsichten der Antike gelten, daß sie ihr Hauptaugenmerk auf das Problem der Falschheit, d. h. des falschen Satzes richtete. Zu sagen, daß ist, was ist, heißt Wahres sagen. Wahrheit wird in dieser Weise aufgefaßt als eine einfache Abbildung von dem, was vorliegt, von dem, was der Fall ist. Die Relation zwischen der ontologischen und der sprachlichen Ebene ist scheinbar linear. Wie aber kann Nichtseiendes sprachlich thematisiert werden, wie kann von etwas die Rede sein, das fehlt, nicht vorhanden ist, nicht der Fall ist? Die Sprache scheint nicht unhinterfragt als Abbildung des Wirklichen aufgefaßt werden zu können. Offensichtlich ist die Beziehung der beiden Ebenen komplexer. Hieraus speist sich das Interesse am Nichtseienden und seinem sprachlichen Pendant, der Falschheit. In der Auseinandersetzung mit den Sophisten wird die Begründung der falschen Rede für Platon zu einer intellektuellen und existentiellen Herausforderung.

Das gefühlte Faktum der Vernunft. Skizze einer Interpretation und Verteidigung

Es gehört bis heute zu den Vorurteilen des philosophischen Diskurses, dass Kant in seiner Ethik den Gefühlen gar keinen oder jedenfalls keinen substanziellen Platz einräume. So wirft Husserl Kant vor, dieser vertrete einen "extremen und fast absurden Rationalismus" (Husserl 1988, 407) 1 , und noch in jüngerer Zeit vertritt beispielsweise Engelen in ihrem Buch über Gefühle die These, dass Handlungen, "welche aufgrund rationaler Erwägungen zu erfolgen haben, ohne die motivierende und bewertende Kraft von Emotionen nicht umgesetzt werden" (2007, 35) können. Das stimmt wohl; zugleich führt Engelen aber Kant als jemanden an, der genau dies bestreite, und das ist falsch. 2 Kant hat nämlich moralischen Gefühlen eine fundamentale Rolle zugewiesen, und zwar nicht nur im Rahmen einer Theorie moralischer Motivation. Jeder weiß (oder müsste wissen), dass auch nach Kant die Vernunft nur motivierend wird über Gefühle. So schreibt er schon in der Grundlegung: "Um das zu wollen, wozu die Vernunft allein dem sinnlich-affizierten vernünftigen Wesen das Sollen vorschreibt, dazu gehört freilich […], ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht einzuflößen." (GMS, 460) 3 Kant behauptet außerdem (auch dies kennt man zu Genüge), dass das Gefühl der Achtung nicht nur gebotene Handlungen hervorbringen kann, sondern, indem die Achtung dies tut, zugleich dem Willen moralischen Wert verleiht. 4

Das Realismusproblem als Wirklichkeitsproblem bei Kaila

2018

Nachdem sich nun herausgestellt hat, dass der Realismus im Kontext der Sprache eine Form der Internalisierung erfahrt, die der realistischen Programmatik als solcher die Grundlage entzieht, stellt sich die Frage, welche Option dann noch verbleibt. Was den logischen Empirismus anbelangt, scheint das Potenzial bezuglich einer Integration des realistischen Programms nach allem, was bisher gesagt worden ist, de facto aufgebraucht zu sein. Doch dieser Eindruck ist verfehlt. Denn es gibt – neben der Schein- und der Sprachproblem-Perspektive – noch eine dritte logisch-empiristische Sicht auf den Realismus.

Forschender Realismus - zu Christina Viraghs literarischem Werk

2019

Christina Viragh wird heute für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet: unter anderem für ihre sechs Romane und eine lange Reihe von Übersetzungen-vor allem aus dem Ungarischen; viele davon gehören zu den wichtigsten Romanen der Gegenwartsliteratur: Imre Kertészs Roman eines Schicksallosen, Sandor Marais Die Glut, Peter Nadas' Parallelgeschichten. Um Christina Viraghs Gesamtwerk zu würdigen, bräuchte es viel mehr als eine zehnminütige Laudatio; mindestens eine Tagung, mit vielen unterschiedlichen Stimmen, Perspektiven und Zugängen müsste es sein. Denn genau das ist es, was ihre Texte ausmacht: Sie erschaffen ein vielschichtiges Geflecht von Wirklichkeiten aus den unterschiedlichsten Stimmen und Perspektiven; ihre Figuren behaupten und fabulieren, streiten und spekulieren, sie unterhalten, nerven, provozieren einander. Auf einen Nenner bringen lassen sich diese Versionen und Variationen nicht, dazu sind sie zu widersprüchlich. Niemals folgen sie der kausalen Logik, die das Erzählen handhabbhar macht. Christina Viragh organisiert diese Stimmen nicht nach den Regeln der Dramaturgie; vielmehr arbeitet sie wie eine Komponistin, arrangiert und montiert sie polyphon und rhythmisch in wechselnden Tonarten; lässt die Elemente ihrer Texte pulsieren und schwingen, auf-und untertauchen, laut und leise werden; mal rast die Zeit, mal steht sie still-und immer entsteht ein unwiderstehlicher Sog, sehr oft sind die Texte tragisch und komisch zugleich. Ich habe vorhin vom Erschaffen gesprochen. Doch was heisst hier erschaffen? Ist es nicht eher ein Erforschen, was Christina Viraghs Texte vorantreibt-ein Erforschen unserer Wahrnehmung, unserer Gestaltung und Modulation der Wirklichkeit durch Sprache?

Hörreste, Phonographie, Polyphonie. Akustische Dispositive der Gesellschaftskritik in Kathrin Rögglas Prosawerk

Wiener Digitale Revue (3), 2022

Im Zentrum dieses Beitrags steht das Dispositiv des Hörrests, das als zentrales Phänomen der RealismusIdee von Kathrin Röggla anzusehen ist. Unter ‚Hörrest‘ versteht man die akustischen Einheiten, welche die Grundlage der „Sprachpartituren“ Rögglas bilden. Der Beitrag versucht, den Ursprung und das Funktionieren dieses Schreibprinzips zu erörtern. Am Anfang steht eine Kontextualisierung innerhalb der deutschsprachigen Literaturgeschichte, wobei Korrespondenzen zwischen Rögglas Werk und Hubert Fichte bzw. Sigmund Freud im Vordergrund stehen. Anschließend werden die verschiedenen Deklinationen dieses ästhetischen Dispositivs in einer chronologischen Perspektive gezeigt und diskutiert, mit Beispielen aus Abrauschen und wir schlafen nicht. Als Abschluss wird ein Blick auf die Ausformung des Polyphonen im Rögglas Prosawerk geworfen.