Indiskrete Fiktionen – Schlüsselromanskandale und die Rolle des Autors (original) (raw)
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Fiktionskritik. Überlegungen zur ‚Unwahrheit‘ des literarischen Erfindens
Johannes Franzen I. Fiktionalität bedeutet Freiheit: Indem ein Autor einen Text als ‚fiktional' markiert, erwirbt er sich das Recht, bestimmte Lizenzen in der Darstellung wahrzunehmen. Der Verfasser eines fiktionalen Textes ‚darf' mehr als der Verfasser eines faktualen Textes. Ein Romancier muss sich nicht an dieselben Regeln halten wie eine Journalistin, ein Theaterautor hat mehr Freiheiten als eine Historikerin. Diese Freiheit beruht auf dem Versprechen, das fiktionale Texte ihren Lesern in einer konventionalisierten Kommunikationssituation vermitteln: Für die bedeutsamen Elemente der hier dargestellten Handlung (und das heißt in den meisten Fällen für die Protagonisten) existieren keine Referenten in der Alltagswirklichkeit -es handelt sich um erfundene Figuren. 1 Zu den meistgenannten Lizenzen, die sich aus dieser markierten Erfundenheit ableiten lassen, gehören das Recht auf umfangreiche Bewusstseinsdarstellungen; das Recht darauf, die Struktur der Handlung nach den Kriterien literarischer Kohärenzbildung (Leitmotive, poetic justice) zu gestalten, sowie das Recht, von den konventionalisierten Regeln der Wahrscheinlichkeit abzuweichen (Phantastik). Weniger oft genannt, aber meines Erachtens von ebenso großer Bedeutung, ist das Recht auf Rücksichtslosigkeit: Erfundene Figuren können den Autor nicht verklagen oder ihm wütend die Freundschaft kündigen. Eine fiktive Figur kann auch durch die gnadenloseste Charakterisierung nicht verletzt werden -die Nicht-Referenz fiktionaler Texte befreit ihre Verfasser also von Rücksichtnahme. 2 Allerdings ist die Praxis der Fiktion, das markierte Erfinden von Figuren, Schauplätzen und Ereignissen, immer auch historisch und kulturell bedingten Reglementierungen unterworfen. Denn die Freiheit, die den Autoren fiktionaler Texte zukommt, wird je nach soziokulturellem Kontext auch als Gefahr wahrgenommen. Die Vorstellung, dass Fiktion Lizenzen besitzt, begleitet grundsätzlich auch die Angst davor, dass diese Lizenzen missbraucht werden könnten. Fiktionskritik findet hier ihren Gegenstand: Sie ist darum bemüht, vor den negativen
Gerardo AErwartungshorizont: Über eine literarische Hermeneutik, die Ingarden nie schrieb
Research in Hermeneutics, Phenomenology, and Practical Philosophy. Vol. IX, No.1 / June 2017: 137-164, ISSN 2067-3655, 2017
Horizon of Expectation: On the Literary Hermeneutics never Written by Ingarden In this paper I examine the subject of the intersubjective constitution of intentional objects in Ingarden, particularly in the literary work. Subsequently, I cover certain topics of Husserl's phenomenology adopted and developed further by Ingarden, which were certainly taken up in Reception Aesthetics, but were insufficiently recognized as Husserl's legacy. In doing so, I attempt to show that Ingarden's literature aesthetics, as regards its origin in Husserl's essential-eidetic phenomenology, provides important clues to suggest that Ingarden may not necessarily be regarded as the founder of reader-oriented hermeneutics.
Selbstzeugnisse in der Frühen Neuzeit, 2007
Einmal noch möchte ich die Freiheit Und dann werde ich ein Mensch Mensch zu sein ist leicht Aber Mensch zu werden schwer 1. Dieser Vierzeiler drückte die Hoffnung eines Häftlings auf ein neues Leben nach der Haft aus-ein Leben bestimmt von sozialer Anerkennung und Integration. Der Schreiber folgte weitgehend der kriminologischen Theorie seiner Zeit. Verbrecher waren für die Kriminologen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in körperlicher, sozialer und psychischer Hinsicht unterentwickelte Lebewesen, denen Hemmschwellen, Disziplin und soziale Kompetenz fehlten. Sie wurden für ihre Straftaten nicht verantwortlich gemacht, konnten aber nicht in die Gesellschaft integriert werden und waren daher zu isolieren 2. Hier erscheinen die kriminologischen Vorstellungen in eine utopische Vision von der Menschwerdung des Schreibers eingebunden. Er begriff seine kriminelle Existenz als Folge eines grundlegenden Defizits, das nur schwer zu kompensieren war. Ganz im Sinne des kriminologischen Diskurses war für ihn ein Leben im Einklang mit den Normen und Erwartungen der Gesellschaft erst möglich, wenn die körperlichen und psychischen Grundlagen dafür geschaffen waren. Im Gegensatz zum kriminologischen Kanon leugnete der Schreiber die Unausweichlichkeit seines kriminellen Schicksals und beanspruchte die Gestaltbarkeit seines Lebensnämlich ein Mensch zu werden. Im Blick auf ihre Vergangenheit und Zukunft bezogen sich Verbrecher somit auch auf jenes Wissen, das sie und ihre Lebenspraxis abwertend beurteilte; sie eig
9. Wechselwirkung im Spieltrieb. Schillers konfliktuöser Bezug auf Fichte
Friedrich Schiller: Über die Ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 2019
Im 13. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen bestimmt Schiller das Verhältnis der beiden menschlichen Grundtriebe, Form-und Stofftrieb, explizit unter Rückgriff auf die in Johann Gottlieb Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794) entwickelte Kategorie der Wechselwirkung. In den darauf folgenden Briefen 14 und 15 stellt er diese Relation weiter durch den Begriff des Spieltriebs dar. Auch wenn Schillers Benennung der Triebe offensichtlich von Karl Leonhard Reinhold angeregt war,¹ verdanken sich doch zahlreiche inhaltliche Aspekte dieser Lehre ebenso Fichtes Verwendung des Triebbegriffes in den Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1794), die Schiller schon im 4. Brief erwähnt.² Die Verbindung der Wechselwirkung mit den Trieben führt in das Zentrum der Auseinandersetzung zwischen Schiller und Fichte, die nicht nur in den beiden genannten Schriften Fichtes ihr Vorspiel hat, sondern auch unmittelbar nach Veröffentlichung der Briefe ein noch interessanteres Nachspiel im so genannten ‚Horenstreit'. Eine Darstellung dieser drei Stationen des Konfliktes ermöglicht ein besseres Verständnis der philosophischen Bedeutung einer Wechselwirkung im Spieltrieb bei Schiller. Dabei wird schnell deutlich, dass es in dieser intellektuellen Auseinandersetzung nicht ausschließlich um die Bezeichnung und Einteilung menschlicher Triebe geht. Vielmehr steht dahinter eine Diskussion um Einheit und Dualität, Identität und Differenz in der menschlichen Natur, welche ihren Ausgang von den philosophischen Errungenschaften Immanuel Kants nimmt und ihre Kreise bis in die Spätphase des so genannten Deutschen Idealismus zieht.
Krisennarrative und individuelle Schicksalsgeschichten im Romanwerk von Iván Sándor
In: Beßlich, Barbara; Felder, Ekkehard (Hg.): Geschichte(n) fiktional und faktual. Literarische und diskursive Erinnerungen im 20. und 21. Jahrhundert. Bern et. all.: Peter Lang Verlag 2016, pp. 121-132., 2016
Wenn man in der ungarischen Literatur nach politisch-historischen Krisensituationen recherchiert, findet man dafür viele Textbeispiele in vielen Gattungen; ein renommiertes Werk oder ein Roman, der über eine Kanonposition jenseits des eigenen literarischen Systems verfügt, ist aber trotz oder dank der vielen schweren Ereignisse des 20. Jahrhunderts kaum bekannt -oder eben zu bekannt. Es bleibt also immer wieder die Frage: Gibt es relevante literarische ungarische Werke über den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, über die Shoa, über die Revolution und die Freiheitskämpfe 1956, über die Wende 1989? Diese und ähnliche direkte Fragen werden immer wieder in literaturkritischen bzw. literaturpolitischen Kreisen gestellt, als ob das literarische Werk eine angewandte Kunst mit aufklärerischer und didaktischer oder eben ideologischer Zielsetzung wäre. Wer könnte aber die eigenen wahren Geschichten eines Landes und einer Nation dem inländisch-nationalen, aber dem ausländisch-übernationalen Publikums nahebringen und die singulären Krisensituationen in maßgeblichen literarischen Narrativen erzählen? Ein Wahrsager kommt lange nicht mehr in Frage, noch dazu in einem Kulturraum, in dem die sich wiederholenden Krisensituationen keine ausschlaggebenden Erklärungsversuche mit wissenschaftlicher Basis kennen. Wenn aber ja, dann nicht mit allgemeiner Gültigkeit und nicht mit Anspruch auf die jeweilige politische Korrektheit. Dieser Mangel der sogenannten Vergangenheitsbewältigungen oder der Verarbeitungsansprüche der historischen Ereignisse kann zugleich auf politische wie ästhetische Hindernisse zurückgeführt werden. Politische Eskalationen wie der Zerfall der österreichischungarischen Monarchie, die ungarische Räterepublik, der weiße Terror, die Pariser Friedensverträge und deren Tabuisierungen und Popularisierungen mit revisionistischen Zielsetzungen, die weitere, bis heute wirkende Traumata verursachten, haben immer wieder einen literarischen und kulturpolitischen Boden gefunden, dessen moralischer oder ideologischer Hintergrund aber den minimalen ästhetischen Prinzipien nicht entsprechen kann. Die späteren weltpolitischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts wie der Nationalsozialismus, die bolschewistische Diktatur, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust und nicht zuletzt die Amputationswiederholungen der kriegsführenden Länder als neue Wunden hatten auch die früheren Krisensituationen verschärft. Es ist eine lange Kette von Traumata, die die ausbalancierte Identi-
Die Intrige im seriellen Erzählen der Gegenwart.
Medialisierungen der Macht. Filmische Inszenierung politischer Praxis, hrsg. von Irina Gradinari, Nikolas Immer und Johannes Pause, Paderborn, 2018
Das serielle Erzählen der Gegenwart macht von der dramaturgischen Funktion der Intrige in vielfältiger Weise Gebrauch. In diversen Formaten, in besonderer Weise aber in Breaking Bad (USA 2008–2013, P.: Vince Gilligan, Mark Johnson) kommt die Intrige in exzessiver Weise zum Einsatz. Es ist auffälliges Merkmal dieser Serien, dass die Intrige hier stets dazu dient, Konflikte als externalisierte darzustellen; die Figuren also in einer äußerlichen Konstellation interagieren zu lassen. Zudem garantiert die Intrige ein kontinuierliches Fortlaufen der Handlung. Im seriellen Erzählen, so lässt sich den weiteren Ausführungen voranstellen, gelangt die Intrige gar zu ihrer wesentlichen, (wenn man so will) vollendeten Form. Denn für das serielle Erzählen ist das Kontinuum der Fortsetzung konstitutiv, womit die Intrige zum Selbstzweck werden kann. Welche Rückschlüsse aber erlaubt dieser Befund für das Selbstverständnis der Zeit? Wie funktioniert die Intrige als medialisierte Machtpraktik? Und in welchem Wechselbezug schließlich stehen die Intrige und die Poetik des seriellen Erzählens?