Die Gefährdung des geisteswissenschaftlichen Buches (2015) (original) (raw)
Die Gefährdung des geisteswissenschaftlichen Buches. Die USA, Frankreich und Deutschland im Vergleich. In: Merkur 69 (2015) H. 1, S. 5–18 (zus. mit Caspar Hirschi).
Krise? Man könnte meinen, dem geisteswissenschaftlichen Buch gehe es prächtig. Jedes Jahr erscheinen mehr Titel, ihre Gesamtaufl age steigt steil an, und die Vielfalt an Autoren und Themen ist größer denn je. Nur ein Detail trübt das schöne Bild: Das reiche Angebot fi ndet immer weniger Käufer, von Lesern ganz zu schweigen. Wie ist die Gleichzeitigkeit eines boomenden Angebots bei einbrechender Nachfrage zu erklären? Aus den Debatten in Zeitungen und Blogs müsste man schließen, das Schicksal des geisteswissenschaftlichen Buches hänge von einem einzigen Faktor ab: dem Internet. Auf diese Annahme scheinen sich Buchliebhaber und Netzaffi cionados geeinigt zu haben, um umso heftiger über die Frage zu streiten, ob das geisteswissenschaftliche Buch im digitalen Zeitalter noch eine Zukunft habe. Die Wahrnehmungsverengung lädt die Kontrahenten zu dramatischen Diagnosen ein: Die Verteidiger des Buches beschwören das Ende der humanistischen Bildungstradition, die Anhänger des Internet den Anfang der egalitären Wissensdemokratie. Und beide werfen sich gegenseitig vor, die Realität zu verkennen. Es fehlt, ganz besonders im deutschsprachigen Raum, an Untersuchungen zum geisteswissenschaftlichen Buchmarkt, mit deren Befunden man die abenteuerlichsten Behauptungen aus dem Argumentationsfl uss aussieben könnte. Seriöse Forschung auf diesem Gebiet ist ein mühsames Unterfangen, denn das geisteswissenschaftliche Verlagswesen ist etwa so transparent wie die Druckerschwärze, mit der es sich und der Welt Sinn verleiht. Man braucht ein weitgespanntes Kontaktnetz zu Verlagsleuten, denen man all jene Informationen entlocken muss, die auf anderen Wegen nicht zu fi nden sind. Ein solches Netz hat in der Regel nur, wer selber Teil der Verlagswelt ist. John Thompson, der die umfassendste Untersuchung zum akademischen Buchmarkt in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien vorgelegt hat, konnte den Fuß deshalb in die Tür vieler Verlage bekommen, weil er mit Polity Press in Cambridge selber einen kleinen Wissenschaftsverlag leitet.1