Bewahren – Vergessen – Erinnern (original) (raw)

BEWAHREN-VERGESSEN-ERINNERN VON DER AUFGABE EINER ERINNERUNGSKULTUR AM BEISPIEL DER RABBINISCHEN TRADITION Es ist mir naturgemäß eine große Ehre, meinem verehrten Kollegen, Freund und langjährigen Weggefährten am Zentrum für Jüdische Kulturgeschichte, Albert Lichtblau, einen Beitrag zu seinem Geburtstag zu widmen. Albert Lichtblaus Expertise, seine umfassenden Studien in den Bereichen Erinnerungskultur, Oral History und Genozidforschung, paaren sich mit einer herausragenden Persönlichkeit, der im positivsten Sinne jegliche Allüre fehlt und die in so erfrischender Weise hemdsärmelig daherkommt, wie es für wahrhaft große Wissenschaftler, die Eitelkeit nicht nötig haben, vorbildlich ist. Über sechs Jahre haben wir gemeinsam am Zentrum für Jüdische Kulturgeschichte in Salzburg gearbeitet, kannten uns längst vorher, haben dieses Zentrum mit einer Reihe von Kolleginnen und Kollegen aufgebaut. Im folgenden Beitrag möchte ich ein Thema aufgreifen, das Albert Lichtblau seit Langem beschäftigt, Erinnerung. An wenigen Beispielen versuche ich, ein paar Impulse dazu aus meinem Fach zu geben, der Judaistik mit Schwerpunkt auf rabbinische Literatur. Ich beginne mit einer Erzählung: Es war einmal ein reicher, frommer, aber kinderloser Mann. Auch im fortgeschrittenen Alter hörte er nicht auf, um einen Sohn bei Gott zu bitten. Nach vielen Gebeten wurde er schließlich erhört und bekam tatsächlich den ersehnten Sohn. Er erzog ihn im Sinne der Tradition und trug ihn auf seinen Schultern zum Lehrhaus. Er gab dem Lehrer den Rat, seinem Sohn das biblische Buch Genesis nahezubringen, jenes Werk, das von der Ehre Gottes handelt, des Schöpfers der Welt und Erhalters aller Völker. Als der Sohn größer wurde und sich bereits allein auf den Schulweg machte, fiel er Räubern in die Hände, die ihn in ein fremdes Königtum brachten, das Buch Genesis in Händen. Als der Knabe sich bereits einige Jahre als Sklave am Königshof aufhielt, erkrankte der König des Reiches. Er wünschte, dass man ihm ein Buch aus der Bibliothek bringe. Die Wahl fiel durch Zufall auf Genesis. Da aber keiner am Hof dieses Buch zu lesen und auszulegen vermochte, holte man den Jungen, der schließlich vom König reich belohnt wurde und wieder nach Hause zurückkehren durfte. Diese Geschichte, hier kurz nacherzählt, wird in einem mittelal