Die „soziale Frage als nationale zu rethematisieren“ (original) (raw)

Zur "nationalen Frage."

I. Innerhalb der Linken, auch der kommunistischen Linken gab es immer einen Streit darüber, ob denn so etwas wie "Nation" oder wie eine "nationale Frage" überhaupt existiert. • Die Zweite Internationale nahm das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" auf, auch Lenin. Luxemburg aber poleminiert eminent dagegen. (Zur russischen Revolution). Die Frage ist doch einzig: was versteht man denn unter einer Nation oder unter der sogenannten "Nationalen Frage." Ich weiß nicht, ob man Tomaten auf den Augen haben muß um zu erkennen, daß es auf dieser Erde japanische Autos gibt, französische und deutsche und russische und amerikanische. Daß es auf dieser Erde ca. 7000 Sprachen gibt. Die Sprache aber ist nur ein Moment des "Nationalen." Jeder weiß eigentlich auch, daß es französische Mode, italienischen Wein, spanische Architektur, katalanische Architektur, bayerische Architektur, europäische Architektur und afrikanische Architektur gibt, daß es darin immer ein Prinzip des Besonderen gibt: es gibt eine deutsche Küche, und eine arabische Küche, lateinamerikanische Tänze und skandinavische Sonnenuntergänge. Ehrlich gesagt: Ich möchte von all dem nichts missen. Eine Welt, in der alles gleich ist, in der es keine individuellen Besonderheiten gibt, möchte ich nicht. Denn das wäre eine Welt der totalen Einfalt, der totalen Gleichmacherei und der totalen Gleichschaltung. Gerade dieses Moment also der individuellen Vielfalt ist es, das mich bewegt, von einer "nationalen Frage" zu sprechen. Was aber verstehe ich nicht darunter? Darunter verstehe ich entschieden nicht, daß sich diese "nationalen Besonderheiten" absolut setzen, daß sie sich nationalistisch abschotten gegen andere, daß sie in einen Kriegszustand eintreten gegen andere "nationale Besonderheiten", daß also aus der nationalen Besonderheit ein aggressiver, ein militanter Nationalismus wird. Das verstehe ich entschieden nicht darunter. Das Prinzipium Individuationis unter Menschen und Völkern heißt bei mir eben individuelle Spezifikation. Und eben keine Gleichschaltung. Jeder Mensch hat eine eigene Haarfarbe, und dazu hat er auch ein Recht. Niemand hat das Recht, einem Menschen vorzuschreiben, wie er sich zu kämmen hat, welche Haarfarbe er tragen soll oder welche Kleidung. Jeder Mensch und auch jedes Volk auf dieser Erde haben das Recht auf individuelle Kultur, Musik, Tanz und Sprache.

Die national-soziale Gefahr

X-Texte zu Kultur und Gesellschaft, 2016

In der Diskussion um Pegida, die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) und deren Bewertung gibt es eine Tendenz, das Auftreten dieser Formationen als Normalisierung der politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik zu betrachten. Pegida erscheint wahlweise als ein Dresdner oder ein ostdeutsches Spezifikum, das berechtigte Ängste der Bürgerinnen und Bürger vor "kultureller Enteignung" ausdrückt. Und die AfD gilt als rechtes Pendant zur Linkspartei, mit deren Durchsetzung die Balance im politischen System wieder hergestellt wäre.[1] Um es vorab zu sagen: Ich halte von solchen Deutungen wenig. Weder ist eine mobilisierungsfähige soziale Bewegung von rechts à la Pegida ein ausschließlich ostdeutsches oder ein bloßes Dresdner Phänomen, noch lassen sich die Wahlsiege der AfD als Normalisierung der deutschen Parteienlandschaft begreifen. Normalisierung ist keine analytische Kategorie; sie verharmlost und erklärt-nichts! Meine Gegenthese lautet, dass wir es nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in ganz Europa und möglicherweise auch in den USA mit einer national-sozialen Gefahr zu tun haben. In nahezu allen europäischen Ländern sind rechtspopulistische Parteien auf dem Vormarsch, teilweise gehören sie den Regierungen ihrer Länder an. Bei der Wahl zum österreichischen Bundespräsidenten 2016 hat der Kandidat der rechtspopulistischen FPÖ Hofer nahezu 50 Prozent der Stimmen erhalten. Trotz aller nationalen wie regionalen Besonderheiten zeichnet sich doch so etwas wie ein gemeinsames Grundmuster ab. Der neue Rechtspopulismus besetzt die soziale Frage und deutet sie in einen Verteilungskampf um, der zwischen Innen und Außen, zwischen zivilisierten und vermeintlich minderwertigen Kulturen ausgetragen wird.

Entsteht eine neue Unterschicht? Anmerkungen zur Rückkehr der sozialen Frage in die Politik

soFid Industrie-und Betriebssoziologie, 2007

Fast erscheint es, als habe man einen Geist aus der Flasche gelassen. Vom SPD-Vorsitzenden Kurt Beck in einem FAZ-Interview eher beiläufig erwähnt und anschließend von der Bild-Zeitung skandalisiert, macht die Entdeckung einer "neuen Unterschicht" die Runde. Interessanter als die Beobachtung diskurstaktischer Wendungen in der Tagespolitik ist die Frage, weshalb eine Studie zum Auslöser einer Debatte werden konnte, die zumindest für einen Augenblick die Schlagzeilen der Printmedien beherrscht. Ein Grund könnte sein, dass die einschlägige Infratest-Untersuchung grundlegend Neues liefert. Betrachtet man die veröffentlichten Ergebnisse, so ist das jedoch nicht der Fall. Die präsentierten Daten liefern weder spektakuläre Entdeckungen noch Belege für das Entstehen einer neuen sozialen Schicht. Auf der Grundlage von 3.021 Befragten (repräsentative Zufallsauswahl, Randomstichprobe, vgl. Müller-Hilmer 2006: 2; Mikfeld 2006: 9 f.) enthält die Untersuchung freilich interessante Belege für die Wiederkehr sozialer Unsicherheit in die reiche und historisch gesehen durchaus sichere Gesellschaft der Bundesrepublik.

Zur Zukunft der Demokratie unter Globalisierungsbedingungen Eine sozialethische Problemanzeige

2013

Zusammenfassung Der Text benennt die wesentlichen Herausforderungen der Demokratie unter Globalisierungsbedingungen. Die Globalisierung fordert die weltweite Verbreitung der Demokratie, hohlt sie jedoch zugleich aus und unterminiert ihren Bestand. Der Beitrag geht zunachst den Grunden fur diese paradoxe Situation nach. In einem weiteren Schritt wird das Konzept der global governance als wichtigster Versuch der letzten Jahrzehnte, neue globale Steuerungsmechanismen zu erfinden, analysiert und die Frage nach seiner Leistungsfahigkeit gestellt. Wiewohl Netzwerkstrukturen auf der Mesoebene der Weltgesellschaft eine wichtige Rolle spielen, bieten sie doch – so die These – keinen Ersatz fur eine Weltordnung. Dieser Befund fuhrt zu der Frage, ob und inwiefern eine Demokratie auf Weltebene als Gegengewicht zu einer globalisierten Wirtschaft denkund realisierbar ist. Abschliesend werden die so gewonnenen Einsichten sozialethisch gebundelt, und es wird gefragt, welchen Beitrag die katholische...

Antworten auf die soziale Frage – eine Einfuhrung

Politische Theorien des 19. Jahrhunderts, 2002

Zunächst scheint alles höchst einfach: Die soziale Frage-so gilt es gemeinhin für das 19. Jahrhundert-bezieht sich auf die Lage der durch den Kapitalismus geschädigten Arbeiterklasse, und die Antwort ist Sozialismus-sei es als soziale Reform oder als Revolution. Ein näheres Zusehen allerdings zeigt eine Vielzahl von Antworten, von denen der Sozialismus nur einen Teil ausmacht, und manche dieser Antworten gab es bereits, bevor die "soziale Frage" im Wortsinn Uberhaupt gestellt wurde. Ganz einfach ist die Situation also nicht. Was die Antworten betrifft: Auf die soziale Frage antwortet vor allem und spezifisch der Sozialismus. Aber die Palette der Antworten ist außerordentlich breit, und sie umfaßt die wichtigsten sozialen und politischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts: Sozialismus ebenso wie Liberalismus und Konservatismus. Da gibt es bürgerliche und nicht-bürgerliche, reformistische, revolutionäre und durchaus rückwärtsgewandte Antworten. Was die Frage betrifft: Neu ist, daß sich das 19. Jahrhundert erstmals nicht nur mit dem Politischen, sondern auch mit dem Sozialen befaßt, nicht nur mit "Politik", sondern auch mit "Gesellschaft". Erstmals werden soziale Probleme als Ordnungsprobleme gesehen und diskutiert, die das Gemeinwesen im ganzen betreffen. Wie immer, wenn sich eine neue Problemsicht durchsetzt, folgt die Benennung mit zeitlicher Verzögerung. 1 So wird der Begriff "soziale Frage" in Deutschland erst seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts gebraucht, obwohl die Problematik seit längerem diskutiert wurde-Adam Müller und G. W. F. Die Identifizierung des Wortgebrauchs ist schwierig, da die Geschichtlichen Grundbegriffe (hg. v. 0. Brunner/W. Conze/R. Koselleck, Stuttgart 1972-1997) kein entsprechendes Stichwort enthalten (nicht einmal das Stichwort "sozial"). Der Wortgebrauch, der hier zu finden sein müßte, wird auch in den großen Lexika und Fach-Enzyklopädien nicht historisch präzisiert. So vermerkt Meyers Enzyklopädisches Lexikon lapidar, die soziale Frage, synonym mit der Arbeiterfrage, sei "nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Schlagwort geworden" (Meyers Enzyklopädisches Lexikon,

Individualisierender oder kollektivierender Sozialstaat – Pfadwechsel als Option?

Sozialstaat unter Zugzwang?, 2019

Seit Richard Titmuss und Gøsta Esping-Andersen das funktionalistische Dogma einer Konvergenz nationaler wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen infrage stellten und die Vielfalt der Entwicklungswege zu typologisieren versuchten, gehören auch Konzepte wie politische Erblast oder Pfadabhängigkeit zum Standardrepertoire des sozialpolitischen Diskurses. Fast ebenfalls beharrlich wird die Tauglichkeit typologischer Ansätze infrage gestellt. Anstelle von wohlfahrtsstaatlichen Regimen schlagen wir daher eine Unterscheidung von Modernisierungspfaden vor. Die Länderfamilien unterscheiden sich bezüglich der historisch-soziologischen Evolution ihrer Sozialstruktur und der Priorisierung von Grundwerten. Das prägt in der Folge auch deren Wohlfahrtsstaatlichkeit. Entlang des europäischen Städtegürtels situieren sich die Länder mit einer liberal-freiheitlich geprägten Wertordnung, in welcher Mutualismus und zivilgesellschaftliche Akteure vergleichsweise einflussreich sind. Homogene Sozialstrukturen im Verein mit einer protestantischen und sozialdemokratischen Prägung begünstigen eine integrativ-gleichheitsorientierte Wertordnung. Eine heterogene dritte Länderfamilie eint das Merkmal einer strukturkonser vativen Wertordnung, welche sich in Form der Absicherung der Partikularin teressen ihrer Klientele mittels korporatistischer Mechanismen

Staatssozialismus – Sozialpolitik – Legitimation.

2019

Die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts kann ohne sonderliche Schwierigkeiten auch als die Geschichte der Expansion des Wohlfahrtstaates verstanden werden.1 In der ersten Hälfte des jahrhunderts bestimmten vor allem die wirtschaftliche Entwicklung und die Entwicklungsdynamik der einzelnen Länder und Regionen den Prozess, in dem die Wohlfahrtsmaßnahmen ausgearbeitet wurden, und den zahlenmäßigen Zuwachs an Personen, die in den Genuss der Versorgung kamen. Ein determinierendes Element dieses Prozesses war das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die Unternehmen bemühten sich im Allgemeinen, die wichtigsten – dies bedeutete meist die am besten ausgebildeten und erfahrensten – Arbeiter zu halten, indem sie ihnen eine fortschrittlichere und umfassendere sozialpolitische Versorgung in Aussicht stellten. Die Rolle des Staates war in diesem Prozess etwas eingeschränkter und belief sich in erster Linie darauf, die gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen. Entscheidend war hingegen die Eigenorganisation der Arbeitnehmer, ihre gesellschaftliche und politische Partizipation, die eine Steigerung der sozialen Sicherheit förderte, da die Bruderladen, die freiwilligen Hilfsvereine ebenso wichtige Elemente des Sozialsystems waren wie die sozialen Einrichtungen der Unternehmen oder des Staates.