Sehnsuchtsort Gießen? - Zur Geschichte des Notaufnahmelagers nach dem Mauerbau (original) (raw)

Meine Damen und Herren, vielen Dank für die Einladung und die herzliche Vorstellung. Der Bitte der Oberbürgermeisterin, zum 25. Jahrestag der Wiedervereinigung über mein Forschungsprojekt zu berichten, komme ich gern nach, ist die Geschichte des Gießener Notaufnahmelagers doch eng mit der deutsch-deutschen Geschichte verbunden. Und dies nicht erst, als der Ansturm ausreisewilliger DDR-Bürger im Sommer 1989 gemeinsam mit der Stadt zu bewältigen war. Ich komme dieser Bitte auch deshalb gern nach, weil ich ein Kind der DDR bin. Dass ich eingeladen wurde, heute die Festrede zum 3. Oktober zu halten, zeigt einmal mehr, wie sehr dieses Deutschland zusammengewachsen ist. Der folgende Vortrag wird der Frage nachgehen, für wen Gießen wann zu einem Sehnsuchtsort avancierte. Dabei wird deutlich werden, dass diese Assoziation eng mit dem Notaufnahmelager zusammenhing, das sich seit 1949 vor den Toren der Stadt befand. Deshalb gilt es zunächst die Frage zu beantworten, ob Lager Sehnsuchtsorte werden können? Das Lager als Sehnsuchtsort? Mit Lagern werden gemeinhin enge Massenunterkünfte, schlechtes Essen, schmutzige Latrinen, begrenzte Waschmöglichkeiten, Enge und damit der Verlust von Privatsphäre verbunden. Können Lager also Sehnsuchtsorte sein?-Wenn wir an die Lager der NS-Zeit denken, werden wir das verneinen. Es sind jene menschenverachtenden Verhältnisse aus den Jahren zwischen 1939 und 1945, die, nachdem die Verbrechen der Nationalsozialisten bekannt geworden waren, unser Bild von Lagern bis heute prägen. 1 Zwar gab es in Gießen zwischen 1939 und 1945 kein großes Konzentrationslager, doch am Gießener Stadtrand hatte es eine Vielzahl kleinerer Arbeitslager gegeben, die ausländische Arbeitskräfte und Kriegsgefangene verwahrten. Breitbach und Prillwitz führen mindestens 23 solcher Lager auf, die seit Anfang der 1940er Jahre in Gießen entstanden waren. Im Jahr 1944 waren etwa 1560 Zwangsarbeiter in Gießen beschäftigt, zwei Drittel von ihnen wurden in Lagern untergebracht. 2 Mit Bekanntwerden der Schrecken und der Gräuel in den NS-Lagern nach Kriegsende hätte man meinen können, dass sich das Lager als solches überlebt