Raum und Religion im Werk von Duvignaud: Versuch eines Zugangs zur Theorie (original) (raw)

1. Biographie Jean Duvignaud wurde am 22. Februar 1921 in La Rochelle geboren und starb ebenda am 17. Februar 2007. Er begann seine Studien der Philosophie am Lycée Henri IV., musste während des Krieges 1940 jedoch seine Ausbildung unterbrechen. In dieser turbulenten Zeit, so berichtet er selbst, "versteckte er sich dank mehr oder weniger zusammengeschusterter Papiere mit anderen Drückebergern auf der Halbinsel von Avert, wo das "an allen Fronten siegreiche Heer"... den atlantischen Schutzwall errichtete. 1 Dort erhielt er von einer Untergrundorganisation den Auftrag, nachts Säure in die Betonmischmaschine zu schütten, um den Zement brüchig zu machen. 1942 kehrte er auf das Henri IV. In Paris zurück, um seine Studien wieder aufzunehmen. 2 Von dieser Zeit schildert er: "Die Klasse Henri IV. War gegen 1943 eine mikroskopische Zelle, wenn nicht von Ideen, so zumindest von einer außerordentlichen Gärung. Eine Embryologie. Den Einstieg in die Institutionen, den man hier in einer unklaren Art und Weise vorbereitete, war ein Vorwand für eine viel umfassendere Zusammenkunft. Viel mehr als die Kurse der Geschichte oder der Philosophie fragten Alba und Hippolyte sich, sowie man selbst in privaten Gesprächskreisen nach Dingen, wie als ob man das Rätsel der gegenwärtigen Welt lösen wolle, die ungewiss und bedrohlich war." Der Zeitgeist, unter den Intellektuellen, mit denen Duvignaud verkehrte, zeichnete sich durch Skeptizismus, Relativismus, einem Zweifel der Anwendung der technischen Rationalität auf die "klassische" Einheit der Menschen und der Ablehnung des ideologischen Terrorismus der totalitären Regime aus. Nach dem Krieg und der Befreiung, dieser Epoche, die sein Denken stark geprägt zu haben scheinen, lehrt er Philosophie in Abbeville, danach in Étampes, bevor er Assistent für Soziologie an der Sorbonne wird. In den 50er Jahren arbeitet er unter anderem mit Roland Barthes, Adamov und Henri Lefebvre an einer Theaterzeitschrift, die eine Gesamtausgabe von Berthold Brecht plante. 1961 gibt er Kurse an der Universität von Tunis, wo er gemeinsam mit Michel Foucault arbeitet. Mit Studenten des Landes reist er monatlich nach Chebika, einem Dorf in Süden von Tunesien, um die Transformationen im noch jungen unabhängigen Land zu erforschen. Chebika ist zu dieser Zeit ein Ort, "in dem die Männer und Frauen den Forschenden weniger das erzählen, was sie waren oder sind, sondern das, was sie sein können aufgrund de 3 r Versprechungen der 1 Jean Duvignaud, Le Pandémonium du présent, S. 34. 2 ebenda, S. 32. 3 Jean Duvignaud, Le langage perdu, S. 32-37. Schule, des Radios sowie der Militanten der jungen Unabhängigkeit." Die Erfahrung in Tunesien, die Entdeckung der Mikrosoziologie in Chebika scheint für Duvignaud den Bruch mit dem Strukturalismus zu bedeuten, da er in seinen folgenden Schriften zunehmend die soziologische Bedeutung des "A-Strukturellen" betont. So fokussiert er beispielsweise 1973 in "Feste und Zivilisationen" das Fest nicht als Ritual oder Zeremonie, sondern als einen unvorhersehbaren Bruch, der das Leben aufbricht, als einen Aufstand des Möglichen gegen das Reale. Im gleichen Jahr erscheint auch "Anomie, Häresie und Subversion", in dem er sich des von Guyau begründeten und von Durkheim zuerst im Selbstmord aufgenommenen, später wieder verworfenen Begriffs der Anomie bedient und der Frage nachgeht, ob man neben der polizeilichen Reglementierung der Gesellschaft nicht auch jene Momente der Kreativität bedenken muss, die oftmals ausgelöschten oder verdammten Individuen in den Blick nehmen muss, die der gemeinschaftlichen Erfahrung unbekannte Felder eröffnen, um zu verstehen, wie sich Gesellschaften verändern. Eine analoge Studie, ebenfalls 1973 erschienen, zieht eine Bilanz der Ethnologie: Frobenius, Morgan, Malinowski, Lévi-Strauss... Er stellt sich die Frage, ob sich die menschlichen Gesellschaften in ihrer Vielzahl, in ihrer Unterschiedlichkeit nicht den Normen der europäischen Philosophie entziehen, die sie studieren, die sie so gerne auf universelle Charakteristika oder auf die Anwendung kant´scher Kategorien reduzieren. Diese Überlegungen nehmen in dem 1977 publizierten Werk "Le don du rien" konkrete Ausformung an, indem er kritisiert, dass das Soziale nicht nur auf das Nützliche zu reduzieren ist, im Sinne, dass das Soziale nicht nur zur Reproduktion der gesellschaftlichen Strukturen beitrage. Auch die Revolutionen, die Brüche in der Geschichte gehören zum Leben der Sozietäten, in der die Akteure versuchen, die Welt neu zusammenzusetzen. Im gleichen Jahr, 1977 erschien auch "Lieux et non lieux", in dem er aufzuzeigen versucht, dass die Vielzahl der Räume auf die Vielfalt der Zeiten verweist. Es könnten noch weitere bis zu seinem Tode 2007 erschienene Werke genannt werden, wie "La Solidarité", "Die Genese der Passionen im sozialen Leben" oder "Die Bank der Träume". Der Reichtum seines Denkens ist nur schwer auf einen Nenner zu bringen und man kann ruhig die Aussage seines Schülers David Le Breton heranziehen, um die Vielfalt der Ideen zu charakterisieren. "Seine Soziologie steht unter dem magnetischen Einfluss zwielichtiger Ereignisse des individuellen und kollektiven Lebens , in dessen Werken von einer Seite auf die andere ein Austausch zwischen Freunden stattfindet, Ideen geboren werden, sich entwickeln und sich wieder wegschleichen." 4 Ganz unerwähnt habe ich bislang seine Romane oder die Studien zum Theater gelassen, in denen er auf die Wirkkraft der Tätigkeit des Imaginären auf die Gesellschaft aufmerksam macht, das Theater 4 David Le Breton, Le théâtre du monde: Lecture de Jean Duvignaud (Québec 2004), S. 17-20. 2 als den Ort vorstellt, wo auf der Bühne in einem geschlossenen Raum neue Formen sozialer Bindungen aufgeführt werden, die über ihre fiktive Zurschaustellung in bestimmten Epochen die Passionen der Menschen ergreifen können und zu einer Transformation der Realität führen... Diese Vorrede hat bislang kaum auf das Thema Religion und Raum Bezug genommen, doch wollte ich, vor dem Einstieg in das Thema Jean Duvignauds Werk in etwas ausführlicheren Maßen vorstellen, bevor ich nun auf einzelne in seinem Werk verstreute Aspekte zu sprechen komme, die mit der Thematik des Seminars im Einklang stehen. Ich muss gestehen, dass ich mir die Aufgabe leichter vorgestellt hatte, da ich zumindest, als ich das Thema vorschlug, noch Erinnerungen an bestimmte Passagen seiner Bücher hatte, die mir geeignet schienen, unter dem Fokus des Seminars behandelt zu werden. Als ich jedoch konkret nachschlug, fiel mir auf, dass viele der Ausführungen, die mir in der Erinnerung so klar schienen, oftmals nur vage Andeutungen waren. Trotz alledem möchte ich den Versuch wagen, die entsprechenden Stellen vorzustellen, die sich vor allem auf die Bedeutung des Aufkommens der Stadt-Staaten, dieser von Mauern umschlossenen Räume auf die Kultur, darunter auch Religion und Mythos, beziehen. 2. Die Rolle der Stadtmauern In "Lieux et non lieux" formuliert Duvignaud folgenden Befund: "wenn man aus dem kollektiven und individuellen Leben die Manifestation einer Aktivität macht, die sich nur durch ihre Exteriorisierung realisiert, so bedeutet dies, dass diese Äußerung jedes Mal eine andere Form durch und im Raum annimmt. Die menschlichen Beziehungen, die Tauschhandlungen, die Produktionsweisen und die Art und Weise Krieg zu führen, der Andrang der Begierden und der Träume, die Hierophanien, die technischen Prozeduren, die Beziehungen der Beherrschung und Unterwerfung, die Umsetzungen verweisen auf räumliche Konfigurationen 5 ... Wenn man von sozialen Räumen spricht, ist es zweifelsohne nötig, etwas anderes heraufzubeschwören als den rein mechanischen Charakter des gemeinschaftlichen Raumes. Ich schlage die Option vor, dass jeder von ihnen eine Matrize der möglichen und realen Existenz begründet und dass diese Matrizen der kollektiven und individuellen Erfahrungen unter unterschiedlichen Gesichtspunkten betrachtet werden können oder wenn man so will als Formen unterschiedlicher Emergenzen. 6 " Die erste dieser Formen, wie er sie in "Lieux et non lieux" abhandelt, ist jene des Verstreutseins und korrespondiert mit der infiniten Fläche der Steppe und der Wüste nomadischer Zivilisationen. Diese 5 Jean Duvignaud, Lieux et non lieux, S. 128. 6 ebenda, S. 131. 3 Zivilisationen nehmen im geomorphen Raum und in der Zeit diverser Geschichten einen immensen Platz ein. René Grousset ruft in "Das Reich der Steppen" die Zerstreuung der herumirrenden Stämme in Erinnerung, diese brown´sche Bewegung, die die herumziehenden Völker ergreift, die Skythen, Hunnen, Awaren, die Turkvölker und die Mongolen, die von mythischen Führern angeführt wurden (Attila, Tamerlan, Ginghis Khan...). Die nomadischen Räume sind Plätze von Strecken und des Zufalls, in denen sich die Stämme für einige Tage im Raum verfestigen. Eine andere Erfahrung des Raumes hängt mit dem zusammen, was Duvignaud die Toponymie nennt, die Errichtung fixer Orte, die sakral oder politisch sind, heilige Orte, das "prophezeite Land", fixe Orte, zwischen denen ein Hin-und Herwandern entsteht. Hierunter fallen mitunter die feudalen und patriarchalen Gesellschaften, von denen Ibn Haldoun, die Bibel, die Odysee und die Ilias berichten sind nie völlig stabil. Gemeinschaften, so Duvignaud, schreiben sich mitunter stärker in den Fluss der Zeit als in den Raum ein, doch wenn man über Religion und Raum spricht, scheint man eine Entwicklung im sozialen Zusammenleben nicht außer Acht lassen zu dürfen: Die Entstehung der Stadt als dritte Form der Erfahrung des Raumes. Das Bild des Menschen verändert sich mit der Konzentration in einen geschlossenen Raum, in einem zusammengedrängten, gedrängten und bezähmten Platz. Die Stadtmauer befestigen eine andere Erfahrung des Lebens. Unter Stadt versteht Duvignaud nicht die modernen Formen mit ihrer vagen Ausdehnung, sondern die Stadt als ein geschlossener Ort, geschlossen gegenüber der formlosen Ausdehnung des Waldes, des Meeres und des Landes. Es ist ein Ort, an dem...