"Was heißt Deliberation? Eine theoriegeschichtliche Betrachtung", in O. Flügel-Martinsen, D. Gaus, T. Hitzel-Cassagnes, F. Martinsen (Hg.), Kritik der Deliberation - Deliberation als Kritik. Wiesbaden: VS 2014, 49-71. Manuscript version. (original) (raw)
Der intellektuelle, politikwissenschaftliche und politische Einfluss, den Theorien deliberativer Politik in der Demokratietheorie der vergangenen dreißig Jahre gewonnen haben, ist bisher ideenhistorisch kaum reflektiert worden. Zwar haben eine Reihe zeitgenössischer Theoretikerinnen ihre jeweiligen Ahnengalerien entworfen und den einen oder anderen klassischen Autor als "proto-theorist of deliberative democracy" vereinnahmt (Waldron 1999, S. 86, zu John Locke; vgl Urbinati 2002, S. 8, 88-9, zu John Stuart Mill). Einer verbreiteten Vorstellung zufolge verläuft die Traditionslinie von Aristoteles und Cicero zu James Harrington und von dort zu den Vätern der U.S.-Amerikanischen Verfassung (vgl. Gustafson 2001, S. 13-20). Eine andere Linie wird über Burke und Mill zu Habermas und Rawls gezogen (vgl. Gutmann und Thompson 2004, S. 8-9). Da keine Klarheit über die Kriterien der Zugehörigkeit besteht, erfolgt die Traditionsbildung aber stets ad hoc; der Kanon-Formation haftet mithin etwas Willkürliches an. Eine gelehrte oder auch nur belesene Herleitung dessen, was deliberative Demokratie vor dem Hintergrund der politischen Theoriegeschichte bedeuten kann und was diese Bedeutungssuche für Auswirkungen auf unsere heutigen Diskussionen haben soll, wird schmerzlich vermisst. Obwohl in diesem Beitrag weitere Gewährsleute für die Ursprünge deliberativer Politik eingeführt werden, darunter Jean-Jacques Rousseau und Jeremy Bentham, so werden diese nicht als Kandidaten positiver Traditionspflege vorgestellt. Im Zentrum des Interesses steht der Bedeutungswandel, den der Ausdruck délibération zwischen 1762, dem Jahr der Veröffentlichung von Rousseaus Contrat Social, und 1816, dem Erscheinungsjahr von Benthams Tactique des Assemblées Politiques Délibérantes, erfährt. Die beiden Daten stecken Anfang und Ende einer revolutionären Epoche ab, in der sich ein wechselhafter, sich heutigen begrifflichen Gewissheiten verweigernder Gebrauch des Ausdrucks délibération in theoretischen Texten und den französischen Verfassunggebungsprozessen niederschlägt. Seine prominente Verwendung in den drei Revolutionsverfassungen zwischen 1791 und 1795 zeigt, dass dem Konzept im entstehenden demokratischen Parlamentarismus eine noch kaum verstandene Schlüsselrolle zukommt. Die noch zu schreibenden Ideengeschichte der Deliberation lässt sich ebenso sehr durch die unübersichtliche Verwendung des Ausdrucks wie durch seine lange Abwesenheit motivieren.