Die Wittenberger Letternfunde aus der Bürgermeisterstraße 5. Eine typografische, historische und materialkundliche Untersuchung (original) (raw)
Eichorn, N., Holesch, N., Stieme, S. L., Berger, D. - Glas, Steinzeug und Bleilettern aus Wittenberg, Forschungsberichte des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle 5 (Halle [Saale]) 267-364
Die Erfindung des Buchdrucks mithilfe beweglicher Metallstäbchen, so genannter Lettern oder Typen, wird gemeinhin dem Mainzer Buchdrucker Johannes Gutenberg (ca. 1400–1468) zugeschrieben. Zu seinem größten Verdienst gehört neben der Entwicklung eines neuen und äußerst effizienten Druckverfahrens für Bücher aber auch die Konstruktion einer Druckerpresse sowie einer geeigneten Druckfarbe, welche er mit weiteren Hilfsmitteln zu einem leistungsfähigen, gesamtheitlichen Prozess zusammenführte. Man darf wohl mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass Gutenberg (eigentlich Johannes Gensfleisch zur Laden) die Anregungen für seine Neuerungen durch bereits bekannte Druckverfahren sowie bei seinem längeren Aufenthalt in Strasbourg erlangte (Reske 2010). Über das Leben des Mannes, den Journalisten und der US-amerikanische TV-Sender A&E Network 1998/1999 einstimmig zum »Mann des Jahrtausends« wählten (Gottlieb u. a. 1998) , ist ansonsten aber nur wenig Konkretes überliefert geblieben. Vieles, wie etwa Gutenbergs Geburtsjahr oder der genaue Erfindungsort und -zeitpunkt des Buchdrucks, muss deshalb aus historischer Sicht unbeantwortet bleiben (Kapr 1993; Reske 2010). Ausgehend von Gutenbergs Leistungen trat die neue Drucktechnologie ab den 40er Jahren des 15. Jahrhunderts rasch ihren Siegeszug durch ganz Deutschland und Europa an und löste damit eine regelrechte »Medienrevolution« aus (Bremer 2008, 30). Bedeutende Buchdruckerzentren entwickelten sich bereits kurz nach der Mitte des 15. Jahrhunderts beispielsweise in Nürnberg, Augsburg, Köln, Basel, Strasbourg und Paris (Abb. 2). Die größte Bedeutung erlangte das junge Druckereiwesen jedoch erst im Verlauf der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in der es wohl zum wichtigsten Instrument der Reformation durch Martin Luther (1483–1546) avancierte. Ohne den Buchdruck, welcher die Reproduktion unzähliger Bücher und Flugschriften in kürzester Zeit ermöglichte und damit für eine weite Verbreitung der Lutherschen Thesen sorgte, wäre die Neuordnung des christlichen Weltbildes in der Weise mit Sicherheit nicht umsetzbar gewesen. Moeller (1979, 30) prägte daher die durchaus treffende Phrase: »„[…] Ohne Buchdruck keine Reformation. […]«“. Ort und Ausgangspunkt des Geschehens war die kleine kursächsische Stadt Wittenberg, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts höchstens 2100 Einwohner zählte (Weyrauch 1990), zu der Zeit aber bereits Residenz des ernestinischen Kurfürsten Friedrich III. war. Hier lassen sich ab 1502 neben der Gründung der Universität zahlreiche Buchdrucker und Verleger in den Chroniken der Stadt nachweisen, von denen ab 1517 nicht wenige Luthers Auftrag erhielten, seine Schriften zu drucken und publik zu machen. War der Reformator mit der Leistung eines Druckers einmal unzufrieden, betraute er kurzerhand einen anderen mit der Umsetzung (Volz 1957, 147; Weyrauch 1990, 56–57). Die damit einhergehende Konkurrenz dürfte vermutlich der Qualität der Druckerzeugnisse äußerst dienlich gewesen sein, mit Sicherheit hatte das Geschehen aber auch einen entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung Wittenbergs. So siedelten sich in der Folge zahlreiche Drucker und ferner Buchbinder in der Elbestadt an, die nachweislich vorwiegend im handwerklich geprägten Elster- und Jüdenviertel (z. B. im Bereich des ehemaligen Franziskanerklosters, der Bürgermeister- und der Juristenstraße) ihre Offizinen einrichteten (Reske 2007, 990–1014; Hennen 2013; Rothe 2013, 81). Die meist wohlhabenderen Verleger konzentrierten sich dagegen auf eher prominentere Lagen am Markt sowie in der östlich davon abzweigenden Collegien- und Mittelstraße (Kühne 1967, 310; Rothe 2013, 81). Als ausgesprochen seltene Zeugnisse ortsansässiger Buchdrucker wurde 1997 bei einer Notgrabung auf der Bürgermeisterstraße 5 eine größere Anzahl an Bleilettern gefunden. Ihnen soll dieser Beitrag in erster Linie gewidmet sein, wobei die zeitliche Einordnung der Lettern und ihr Zusammenhang mit der Reformation im Vordergrund stehen. Dem wird einerseits anhand der archäologischen Grabungsbefunde und Funde, andererseits durch typografische, typometrische und historische Betrachtungen nachgegangen. Daneben soll das Material von archäometallurgischer Seite aus bearbeitet werden, um damit einen wichtigen Beitrag zur Kenntnis des frühen Letternmetalls und der Schriftgussgeschichte zu leisten. Gerade die letzten beiden Punkte sind bis heute nur unzureichend untersucht, da es europaweit an vergleichbaren Funden mangelt. Bevor jedoch die Lettern selbst eingehend vorgestellt werden, soll zunächst kurz die allgemeine Entwicklung des Buchgewerbes in Wittenberg im 16. Jahrhundert und das Verhältnis der Wittenberger Drucker sowie Martin Luthers zur deutschen Sprache anhand der aktuellen Forschung resümiert werden.