Formlos. Zur Gegenwart sozialer Desintegration in Karin Strucks "Klassenliebe" (1973) (original) (raw)

Catrin Dingler (2019): Der Schnitt. Zur Geschichte der Bildung weiblicher Subjektivität. Frankfurt a.M.: Campus. 476 S., ISBN-Nr. 9783593510941, 45,- €

Generation und Sexualität

Sabine Hattinger-Allende Differenzfeministisches Denken ist relationales, sinnliches und leibliches Denken, das danach sucht, die Bildung und "das fortgesetzte Werden der vergeschlechtlichten Subjektivität zu erfassen" (355); eine lebendige theoretische Praxis, die der Resonanz eines Gegenübers bedarf. Die Beziehungshaftigkeit von Subjektivität und Bildungsprozessen ist ins Zentrum gerückt. Nicht um einen Kampf um Anerkennung geht es beim Zeigen der eigenen irreduziblen Singularität durch eine Äußerung, sondern "[e]s geht darum, etwas ‚auszulösen', im Sinne der physikalischen Bedeutung des Wortes in einer Anderen etwas zum Vibrieren, zum Mit-Schwingen zu bringen" (256). In den Worten und zwischen den Zeilen der vorgelegten Studie pulsiert ein Begehren nach Resonanz weiblicher Subjektivität, ein Begehren nach Reziprozität und dem lebendigen und konflikthaften Austausch zwischen Differenten. Catrin Dingler rekonstruiert das Differenzdenken als deutsch-italienische Geschichte in genealogischer Bezogenheit einer doppelten Differenz, in der Geschlecht und Generation im Sinne einer weiblichen Genealogie wirksam werden sollen. Prominent, weil titelgebend, positioniert sie die gesellschaftspolitische Setzung des Differenzdenkens als Schnitt. In Anlehnung an die künstlerischen Werke von Lucio Fontana, der durch Messerschnitte in Leinwände den zweidimensionalen Raum öffnet, benennt Carla Lonzi den kreativen Akt der Bildung weiblicher Subjektivität, der sich nicht länger am Modell des männlichen Subjekts ausrichtet, als Schnitt [taglio]. Erst durch eine Geste des radikalen Schnitts wird der Raum eröffnet, "um jenseits vorgegebener patriarchaler Maßstäbe einen differenten Sinn von Weiblichkeit (und Männlichkeit) entwickeln zu können" (10). In der genealogischen Rekonstruktion des Differenzdenkens setzt Dingler an diesen Schnittkanten an, um die historische Spezifizität der radikalfeministischen Geste nachvollziehen zu können. Mit Helene Stöcker beschreibt sie ein Werden weiblicher Subjektivität in der Alten Frauenbewegung im deutschsprachigen Raum und mit Carla Lonzi zeichnet sie die Konstitution eines unvorhergesehenen Subjekts in der Neuen Frauenbewegung Italiens nach. Die Differenzposition wurde in der historischen

Private Eyes. Zur Erosion von Privatheit in Marlene Streeruwitz’ "Die Schmerzmacherin." (2018)

Angesichts der gegenwärtigen Hochkonjunktur von Szenarien einer immer gläserner werdenden Privatheit widmet sich vorliegender Artikel unterschiedlichen literarischen Inszenierungen von Privat-Sein und (Verletzung von) Normen und Privatsphären in Marlene Streeruwitz’ Roman "Die Schmerzmacherin.": Ob Privatheit nun als Recht auf individuelle Handlungs- und Entscheidungsfreiheit definiert wird, als Recht auf den Schutz von persönlichen Daten im Zeitalter der Informationstechnologie oder aber als Recht auf die Unverletzbarkeit der privaten Räumlichkeiten – stets wird Privatheit als ein Grundrecht des Menschen und damit als etwas elementar Schützenswertes entworfen. Davon ausgehend soll mit Blick auf den Roman der österreichischen Autorin gefragt werden, auf welche Weise jenes Recht entweder eigensinnig konserviert, mittels Strategien der voyeuristischen Macht- und Gewaltausübung untergraben oder aber durch ein Eindringen in den privatesten aller Orte auf die Spitze getrieben wird.

(2005) Entfremdete Menschen, verdinglichte Verhältnisse. Ein Streifzug durch die Geschichte eines gesellschaftskritischen Konzepts

soz:mag -Das Soziologie Magazin Basel, Bern, Genf, Zürich: Verein virtuelle SoziologInnen http://sozmag.soziologie.ch soz:mag DAS SOZIOLOGIE MAGAZIN Some Rights Reserved Dieser soz:mag-Artikel unterliegt einer Creative Commons Lizenz. Er darf zu nicht-kommerziellen Zwecken in ungekürzter und unveränderter Fassung unter Beibehaltung dieser Urheberrechtsbstimmung frei vervielfältigt und verbreitet werden. Details siehe unter: http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/deed. Marx war der Erste, der den Entfremdungsbegriff als soziologische Kategorie fasste. In seinen frühen Auseinandersetzungen einerseits mit Hegel, andererseits mit den Ökonomen seiner Zeit, suchte er einen Begriff von entfremdeter Arbeit zu gewinnen. Der Mensch sei ein Mensch dadurch, dass er bewusst tätig sein kann. Er produziert nicht nur zur Befriedigung seiner unmittelbaren Lebensbedürfnisse, sondern eignet sich auch darüber hinaus in der praktischen und theoretischen Auseinandersetzung mit der Welt diese an. In seiner Auseinandersetzung mit der vorgefundenen Welt kann er sich entfalten und verwirklichen, neue (auch Denk-)Räume erschliessen, und schafft dabei selbst seine Umwelt, d.h. soziale Verhältnisse, und damit auch sich selbst, die Bedingungen, unter denen sich sein Charakter formt. Unter der Herrschaft des Privateigentums (über Produktionsmittel, d.h. Arbeitsinstrumente, Technologien, Wissen etc.) aber, so Marx, entfremdet sich der produzierende Mensch, die ArbeiterIn, in seiner Lebenstätigkeit: Erstens wird dem Produzenten das Produkt seiner Arbeit, in das er einen Teil seiner selbst, seiner Fähigkeiten und seiner Lebenszeit gelegt hat, entzogen. Es gehört einem Anderen, dem Lohnzahlenden, bereichert diesen. Das Produzierte, ein Teil des produzierenden Menschen, tritt diesem selbst nach getaner Arbeit als fremder Gegenstand, als auf dem Markt käufliche Ware gegenüber. Entfremdung ist aber nicht nur Resultat der Produktion, sondern zeigt sich schon in der Tätigkeit selbst: Die in der Lohnarbeit ausgeübte Lebenstätigkeit ist Zwangsarbeit, nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses nach Verwirklichung oder Entfaltung, sondern "nur ein Mittel, um Bedürfnisse ausser ihr zu befriedigen" (Marx 1944, S. 78). Die Arbeit ist dem Produzenten äusserlich, ihr Inhalt ihm gleichgültig, er und seine Arbeitskraft werden selber zur Ware, die auf dem Markt gegen Lohn verkauft wird. Weil die gemeinsam mit anderen Menschen arbeitsteilig geleistete gesellschaftliche Arbeit nur Mittel für das individuelle Leben ist, entfremdet die Lohnarbeit auch den Menschen von den anderen am gesellschaftlichen Arbeitsprozess beteiligten Menschen: Der unmittelbare Bezug zu anderen bleibt vermittelt über den Markt. Wovon entfremdet sich der Mensch aber nach Marx? Von einem "unentfremdeten" Naturzustand, von seiner "wahren Natur"? Von solchen Idealisierungen ist sein Denken frei: Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen, dies macht ihn erst zum Menschen. Das Potential, das im Menschen steckt, die Möglichkeit einer universellen, freien Auseinanderset-

Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene in „Die Zeit und das Zimmer“ von Botho Strauß

Kodikas/Code. Ars Semeiotica, 2008

Neben den bekannten Formen der Kommunikation, wie sie von John Searle in den fünf Sprechakten Deklaration, Direktiv, Assertiv, Expressiv und Kommissiv klassifiziert wurden, gibt es „kommunikative Randphänomene“ wie mehr oder weniger unkooperative Kommunikation, Simulation, Manipulation, ‚Herbeireden‘, Selbstgespräche, Lüge und Selbstbelügung. Da diese Phänomene an der Peripherie des gewöhnlich als „Kommunikation“ Bezeichneten liegen, können sie von den üblichen Beschreibungsmechanismen nicht ohne weiteres erfasst werden. In dieser Arbeit werden Textstellen aus einem Theaterstück von Botho Strauß zum Anlass genommen, um kommunikative Randphänomene zu analysieren. Hierbei wird zum einen die von Emanuele Arielli entwickelte Theorie der Unkooperativität angewendet, zum anderen das von Roland Posner entwickelte semiotische Kommunikationsmodell, welches ausgehend von grundlegenden Zeichentypen die fünf Sprechakte von Searle formal erfasst. Dabei gelingt es einerseits, die Praxistauglichkeit beider Theorien in der Textanalyse zu demonstrieren, wobei einige theoretische Schwierigkeiten geklärt werden. Zum anderen kann exemplarisch die Bedeutung der kommunikativen Randphänomene für den dramatischen Schreibstil von Botho Strauß gezeigt werden. Die semiotische Kommunikationstheorie bewährt sich damit zugleich als eine Methode der Literaturwissenschaft.

Ins Nichts gestürzt. Sven Hillenkamps Gegenwartsdiagnose "Negative Moderne " ergründet die Schattenseiten gesellschaftlicher Freiheitsstrukturen (Literaturkritik, 11 (2016))

In Zeiten eines vielfach proklamierten end of theory wagt Sven Hillenkamps sozialphilosophische Analyse über die Negative Moderne zwar keinen grundlegend neuen Theorieentwurf, präsentiert sich jedoch im Gewand einer umfassenden Narration. Der Autor erzählt im zweiten Teil seiner auf vier Bände angelegten Untersuchung "Zwänge der Freiheit. Die neuen Formen der Faktizität" die breit angelegte Geschichte von einem Sturz in das Wert-und Bodenlose eines fundamentalen Nichts: Statt die Moderne als Zeitalter des Möglichen zu beschreiben, forciert der Autor die Problemanalyse einer umfassenden "Leere" , die sich ihm im Kontext des anything goes als dunkle Schattenseite und verfemtes Moment darstellt. Hillenkamps Fokus liegt dabei auf der umfassenden Rekonstruktion eines subjektiven Erfahrungsfeldes, das das Individuum angesichts der allgegenwärtigen Produktivitätspotentiale als sich selbst negativ erfahrendes ,Mängelwesen' akzentuiert. "Negative Moderne" erzählt somit keine Fortschrittsgeschichte, sondern umreißt ,Fallbeschreibungen' einer bodenlos-brüchigen Gegenwart, in der die Leitfäden heilsgeschichtlicher Teleologien unlängst durchtrennt und verlässliche Wertfundamente unmöglich scheinen.