Der Jenseitsmythos im X. Buch der Politeia (original) (raw)

“Jenseits des Rechts? Rache im Werk Heinrich von Kleists”

literaturkritik.de, Schwerpunkt: Heinrich von Kleist. Essays und Artikel, 2011

Das Werk Heinrich von Kleist beinhaltet eine Enzyklopädie der Rache. Dass Kleists Texte eine intime Kenntnis des zeitgenössischen Rechtsystems bezeugen, ist bekannt. Bei Kleist begegnen wir einem ganzen Arsenal an Rechtsformen: Ob Kriegs-, Widerstands-oder Erbrecht, sie alle werden in seinen Dramen wie in seinen Erzählungen konfliktreich thematisiert. Im Folgenden soll der Fokus jedoch auf der Rache liegen, und genauer darauf, wie in "Michael Kohlhaas" und "Der Findling" Rache zum Test des Rechtsystems avanciert. Eine Betrachtung der Rache wirft die Frage nach dem Gerechtigkeitsverständnis des Rächers auf. Dass Recht und Rache nicht zwingend Gegensätze sind, stellt etwa René Girard in "Das Heilige und die Gewalt" fest: mit dem Beginn der zivilisierten Gesellschaft übernehme das Rechtsystem die Funktion der persönlichen Rache, und der Strafprozess setze ihrem Exzess ein Ende. Bevor in "Der Findling" und "Michael Kohlhaas" jedoch die Justiz den Rächern ein Ende setzt, kommt ihr bei Kleist noch eine andere Rolle zu: Die Justiz provoziert Rache.

Weisheit und Befehl Piatons "Politeia" und das Ende der Politik

In seinem Hauptwerk "Politeia" ("Der Staat") erörtert Piaton, mit welcher Herrschaft man Gerechtigkeit herstellen könne, um die politische Gemeinschaft ein fìir allemal vor Bürgerkriegen zu bewahren. Die Ordnung, die er dazu ersinnt, schafft das Politi-sche ab und löscht die Politik aus. Um dies darzulegen ist zunächst zu bestimmen, was gemeint ist, wenn im Folgen-den vom Politischen und von Politik die Rede ist. Das Politische ist ein bestimmter sozialer Rahmen; Politik ist Kommunikation und Interaktion innerhalb dieses Rah-mens. Das Politische hat zwei Dimensionen: 1. Es besteht aus einem spezifischen Raum, in dem Herrschende und Beherrschte gemäß bestimmten Regeln und über bestimmte Themen miteinander kommuni-zieren, Autorität erteilen und Gehorsam festlegen. Die betreffenden Themen richten sich danach, was als "das Gemeinsame" (tò κοινόν) gilt; dessen Inhalte schwanken je nach Kultur und historischer Situation. Der zeremonielle Rahmen der Kommu-nikation erstreckt sich von kultischen, sonstigen festlichen und gerichtlichen Ver-anstaltungen bis hin zu Versammlungen, in denen formalisiert Herrschaftsbefug-nisse distribuiert werden. Gibt es diesen Raum-mit seinen Regeln, Interaktionsformen und Themen-nicht mehr, dann existiert kein Forum für die regularisierte (nicht gewaltsame) Kommu-nikation zwischen Herrschenden und Beherrschten, für Politik zwischen ihnen. 2. Es besteht ferner aus einem Raum, in dem die unterschiedlichen Interessen sich artikulieren-bis hin zur Gegensätzlichkeit-, die Willensbildung stattfindet und für die gesamte Gemeinschaft verbindlich entschieden wird, sei es innerhalb der herrschenden Gruppe alleine oder innerhalb der Gesamtheit der Bürger. Gibt es diesen Raum, in dem unterschiedliche Interessen sich zu einem gemeinsa-men Willen vermitteln, nicht mehr, dann verschwindet das Politische: die Gemein-schaft löst sich entweder auf, oder-das ist der andere extreme und zugleich unmög-1 Dieser Aufsatz ist hervorgegangen aus einem Vortrag, den ich auf einer von der Studienstiftung des Deutschen Volkes getragenen Tagung im Februar 1991 gehalten habe, zu welcher mich Dr. des. Kai Tram-pedach einlud. Ihm und Frau Dr. des. Christine Rohweder danke ich für viele intensive Diskussionen über das Thema.

Die 'Weltkarte' und das Verbrechen des Mettius Pompusianus (Klaus Geus)

Suárez de la Torre, Emilio; Canzobre Martínez, Isabel; Sánchez-Mañas, Carmen (eds.): Ablanathanalba: magia, cultura y sociedad en el Mundo Antiguo , 2020

Geus, Klaus: Die "Weltkarte" und das Verbrechen des Mettius Pompusianus: ein Vorschlag. In: Suárez de la Torre, Emilio; Canzobre Martínez, Isabel; Sánchez-Mañas, Carmen (eds.): Ablanathanalba: magia, cultura y sociedad en el Mundo Antiguo. Madrid: Dykinson, 2020 (Collección Clásicos Dykinson), 175–183 [ISBN: 978-84-1324-639-0 / 978-84-1324-682-6].

Das Beschwörungsritual der Pittei

Das Pittei-Ritual KUB 44.4 + KBo 13.241 Rs. mit dem Titel o'wenn (eine Frau) mit einem Kind schwanger geht" (man ouut-an armaizzi) gehórt ohne Zweifel zl den sprachlich und inhaltlich interessantesten Texten der altanatolischen magischen Literaturr. Der Text, der auf der Rùckseite einer groBen, einkolumnigen Tafel steht und nach palàographischen und sprachlichen Kriterien ins 13. Jh. v. Chr. gehórt2, ist stark verderbt und von Luwismen durchsetzt3, die an mehreren Stellen sein Verstàndnis erschweren. Er besteht aus zwei Beschwórungen (Rs. 2-17 bzw. Rs. 22-34), die durch einen Paragraphenstrich getrennt sind. Im folgenden móchte ich nach einer ausfiihrlichen philologischen Analyse des Textes auf die Frage nach Struktur und Inhalt der zwei Beschwórungen eingehen, eine neue Deutung des Inhalts der ersten vorschlagen, und am Ende das Problem eines móglichen Verhàltnisses zwischen beiden Bestandteilen des Textes kurz besprechen. Von KUB 44.4 + KBo 13.241Rs. liegen bereits zwei ausgezeichnete Umschriften vora. Ich biete daher hier nur eine neue Ùbersetzungs und einen Kommentar, in dem ich besonders die Stellen erórtere, an denen meine Interpretation von jener G. Beckmans und anderer Forscher abweicht. Úbersetzung '[FolgendermaBen (spricht]) Pittei: Wenn (eine Frau) mit einem Kind schwanger geht -'zDer [Him]mel bekleidete sich. mit schwarzen (Kleidem), mit duwija'1(-KIeidem) bekleid(ete) er sich, und der Mond bekleid(ete sich) mit blutfarbigen (Kleiì Textbearbeitung: G. Beckman, StBoT 29 (Wiesbaden 1983) L76-I99;Transkription und ìnhaltliche Bemerkungen: F. Starke, StBoT 30 (Wiesbaden 1985) 208 ff.,233-236. '?Vgl. Beckman, StBoT 29, 180. 3 Der Text ist zwar hethitisch abgefafJt, enthàlt aber viele luwische Formen, so daB eine Herkunft aus dem Luwischen wahrscheinlich ist (vgl. Beckman, StBoT 29, 180). Deswegen hat F. Starke ihn in sein Corpus der keilschrift-luwischen Texte aufgenommen. a Beckman, StBoT 29, 176 ff.; Starke, StBoT 30, 233 ff. 5 Die vielen Textemendationen habe ich durch spitze Klammem gekennzeichnet. Orientalia -35

DIE TOPOLOGIE DES SEINS IM SPÄTWERK MERLEAU-PONTYS

published as: Nitsche, M.: Die Topologie des Seins im Spätwerk Merleau-Pontys, in: K. Novotný, T. S. Hammer, A. Gléonec, P. Špecián (eds.) Thinking in Dialog with Humanities. Path into the Phenomenology of Merleau-Ponty, Zeta books, Bucharest 2010, ISBN 978-973-1997-96-4, s. 372-382. ] 1. Topologie und Phänomenologie. Heidegger und Merleau-Ponty. "Den topologischen Raum als Modell des Seins benutzen", 1 schreibt Maurice Merleau-Ponty in einer Arbeitsnotiz zu seinem letzten Werk Das Sichtbare und das Unsichtbare. Die Notiz heißt Ontologie und entstand im Oktober 1959. Der Titel "die Topologie des Seins" stammt von Heideggers Spätwerk. Zuerst ist es gebraucht im Jahre 1947 im Text Aus der Erfahrung des Denkens, wo Heidegger "das denkende Dichten" als "die Topologie des Seyns" charakterisiert, die dem Seyn "die Ortschaft seines Wesens sagt". 2 Wieder hat es Heidegger während des Seminars in Le Thor im Jahre 1969 zur Beschreibung der letzten Periode eigenes Denkens benutzt und als die "Frage nach dem Ort oder der Ortschaft des Seins" erklärt. 3 Sehen wir jetzt von der Frage nach dem möglichen Einfluss von Heideggers Text an Merleau-Ponty ab und wenden wir uns der für beide Denker gemeinsamen Sache zu. Das Sein ist von beiden nicht als der Grund oder der Ursprung der Seiendheit gedacht, sondern als die Ortschaft für das Seiende bestimmt. Das Seiende versteht man als das Seiende nicht in einem System des sich kausal entwickelnden allgemeinen Seins sondern in einem Beziehungen-Raum der menschlichen Erfahrung. Die merkwürdige Nähe von späten Merleau-Ponty und späten Heidegger könnte an einem konkreten Beispiel dokumentiert werden: an der Auslegung des Begriffs Ek-stasis. Heidegger versteht in Sein und Zeit die Ekstasen als die Weisen, wie es die Zeit gibt. Aufgrund der Lektüre von Heideggers Werk benutzt Sartre in seinem phänomenologischen Hauptwerk Das Sein und das Nichts der Begriff Ek-stasis im temporalen Sinn. Merleau-Ponty weist seine Anwendung dieses Begriffs ausdrücklich an Das Sein und das Nichts hin, 4 aber versteht es tief verschieden -nicht im temporalen, sondern im räumlichen, topischen Sinn. Das Merkwürdige dieser Begriffsgeschichte scheint mir zu sein, dass Merleau-Ponty versteht Ek-stasis im Einklang mit dem Spätwerk Heideggers, liest also und kritisiert den Text von Sartre mit Verständnis für späte Heideggersche Absicht. Dieses Verständnis könnte mit der Lektüre vom Brief über den Humanismus, wo Heidegger die topologische Interpretation der Existenz als der Ek-sistenz oder der Ek-stasis andeutet, beeinflusst werden, aber dieser mögliche Einfluss erklärt meiner Meinung nach die Verwandtschaft beider Denker nicht genug. Wodurch ist die merkwürdige Affinität zwischen spätem Heidegger und spätem Merleau-Ponty begründet? Es liegt in ihrem phänomenologischen Ansatz, sie denken das phänomenologische Feld als das (kurz gesagt) ungegründete Offene. Dieses Ungegründetsein könnte als eine Variante von Epoché interpretiert werden, d. h. als das Absehen vom Problem des Grundes des Faktischen. Weder Heidegger noch Merleau-Ponty beschaffen sich mit dem Problem der Begründung, das ist bei ihnen mit der Problematik der Verbindung (oder der Beziehung selbst) ersetzt; d.h. ein erfahrene Bezug ist für sie nicht eine Folge der Grundmöglichkeit des Seienden, sondern so zu zagen eine Fiber der Struktur der Welt. Bei spätem Heidegger finde ich solches Absehen vom Problem des Grundes im Motiv der zögernden Verweigerung des Seyns vor Allem in Beiträgen zur Philosophie; der Grund ist mit dem Ab-grund der Verweigerung ersetzt; der Ab-grund aber wiederum als der >Grund< (nicht 4 Sehe Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, p. 81.

Das Ungetym. Mythos, Psychoanalyse und Zeichensynthesis in Arno Schmidts Joyce-Rezeption

1986

Man könnte die Menschen in zwei Klassen abteilen; in solche, die sich auf eine Metapher und 2) in solche, die sich auf eine Formel verstehen. Deren, die sich auf beides verstehen, sind zu wenige, sie machen keine Klasse aus.« Heinrich von Kleist 1 »Unser Jahrhundert hat 2 Geister hervorgebracht: 1 analytischn: FREUD; 1 sündthetischn, JOYCE;/« (ZT 585 ro) Zumindest ein gemeinsamer Zug verbindet Schmidt und Joyce mit Sicherheit: beide versuchten, sich als Schreibende eine jeweils spezifische Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von ,Sprache, und ,Wirklichkeit< zu erarbeiten, für beide wurde diese Frage sowohl zum Gegenstand poetologischer Reflexionen als auch zum zentralen Anliegen ihrer literarischen Praxis. Eine erste Annäherung an Schmidts Joyce-Rezeption kann daher sinnvollerweise auf dieser Ebene der Reflexion über das eigene Schreiben in Form von programmatischen Äußerungen -wie bei Schmidt -oder als immanente Poetik -wie bei Joyce -geschehen. Beide Autoren waren sich zudem in hohem Maße des literarischen Traditionszusammenhanges bewußt, in dem die Frage nach der Verbindung von Wörtern und Dingen sich für sie stellte. Es ist daher sinnvoll, die jeweiligen prosatheoretischen Positionen bei Schmidt und Joyce nicht isoliert ZU betrachten und sie aus ihrem Kontext in der Tradition der Literatur vor allem des 20. Jahrhunderts gelöst einander gegenüber zu stellen. Vielmehr ist es notwendig, die Poetiken beider Autoren als jeweils im Kontext der literarischen Modeme genau situierbare und autorenspezifische Reaktionen auf eine grundlegende Aporie des Schreibens im 20. Jahrhundert erkennbar zu m. achen. Es handelt sich bei dieser Aporie um eine