Illusion und Reflexion - Silhouettenfilm, Realfilm und Chris Markers Fotofilm "La Jetée" (original) (raw)
Film oder Dia-Show? Zwei eng verknüpfte Begebenheiten spuken durch die Erinnerung eines namenlosen Mannes: das Bild einer Frau, die er als kleiner Junge auf dem Flughafen Paris-Orly gesehen hat (Abb. 18), und ein Mann, der dort gleichzeitig ums Leben gekommen ist. Die Erde wurde inzwischen durch den Dritten Weltkrieg verwüstet und unser Protagonist fristet ein trostloses Dasein als Gefangener in einem Lager, das die Deutschen im von ihnen eroberten Paris errichtet haben. Die Besatzer instrumentalisieren ihn wegen seines intensiven Erinnerungsbildes, weil es ihn mehr als alle anderen Insassen zu Zeitreisen befähigt. Sie schicken unseren Protagonisten zunächst versuchsweise in die Vergangenheit und dann in die Zukunft. In der Vergangenheit gelingt es ihm, die Frau zu kontaktieren und sie näher kennen zu lernen; von den Zukunftsmenschen erhält er technische Hilfsmittel, mit denen seine Peiniger das Überleben der Spezies sichern wollen. Nachdem er seinen Zweck erfüllt hat, wollen die Deutschen ihn töten, doch ihm gelingt die Flucht in die Vergangenheit, wo er die Frau auf der Besucherterrasse (frz. la jetée) von Orly aufsuchen will. Als er sie erblickt und auf sie zu rennt, schließt sich der Kreis: Einer der Deutschen ist ihm in die Vergangenheit gefolgt und erschießt ihn -vor den Augen der entsetzten Frau und vor den Augen eines kleinen Jungen, der, ohne es zu wissen, seinen eigenen Tod als Erwachsener miterleben muss. So oder so ähnlich könnte man die Handlung von Chris Markers 28-minütigem Science-Fiction-Kurzfilm La Jetée (Am Rande des Rollfelds, Frankreich 1962) zusammenfassen -allerdings nur, wenn man es mit einem herkömmlich erzählenden Bewegtfilm zu tun hätte, wie etwa Terry Gilliams Ralf-Michael Fischer La Jetée http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:21-opus-61484 reflex 5.2012 weitaus bekannterem La Jetée-Remake Twelve Monkeys (USA 1995). 2 Bei Marker sehen wir uns mit einem so genannten Fotofilm konfrontiert, der sich -mit einer einzigen kurzen Ausnahme -aus Aufnahmen ohne Figuren-und Objektbewegungen zusammensetzt. 3 Erzählte nicht parallel dazu ein anonymer voice-over-Kommentator die Geschichte und fehlte die Musik, dann würde man in der oft schlaglichtartigen Bilderfolge nur wenig Sinn entdecken. Dass sich hinter dieser spannungsreichen und alles andere als eindeutigen Kombination aus Worten, Musik und Bildern eine spezifische Wirkungsabsicht verbirgt, ist implizit bereits dem Vorspann zu entnehmen, der die Auflösung des Plots in stillgestellten Einstellungen antizipiert, indem er den Film als "un photo-roman de Chris Marker" ankündigt (Abb. 2). 4 Schenken wir einer Kindheitsanekdote Markers Glauben, so kann man La Jetée augenzwinkernd als eine um Jahrzehnte verzögerte Beweisführung über das Wesen des Films verstehen. Für sein Pathéorama, einen Apparat zur manuellen bildweisen Betrachtung von 35-mm-Filmen, so berichtet der Regisseur, zeichnete er als etwa zehnjähriger Junge Abenteuer seiner Katze Riri auf einen der dafür vorgesehenen Streifen. Als er das Resultat seinem Klassenkameraden Jonathan stolz als