Brion Gysin Research Papers - Academia.edu (original) (raw)

In der Pariser Altstadt, in der kleinen Rue Gît-le-Coeur unter der Nummer neun befindet sich die Hülle des legendären Beat Hotel, in dem einst Brion Gysin die ersten cut-up Schnitte zog, Allen Ginsberg den «Kaddish» und Gregory Corso... more

In der Pariser Altstadt, in der kleinen Rue Gît-le-Coeur unter der Nummer neun befindet sich die Hülle des legendären Beat Hotel, in dem einst Brion Gysin die ersten cut-up Schnitte zog, Allen Ginsberg den «Kaddish» und Gregory Corso «Bomb» schrieben, und William S. Burroughs das aus mitgebrachte Wust aus Manuskriptseiten zu «Naked Lunch» formte. Dies sind die bekannteren Anekdoten aus der ereignisreichen Geschichte dieses Hauses, das noch viele andere Künstler beherbergte. Von einer dreizehntklassigen Absteige (so die damalige Kategorisierung) hat sich das Haus zu einem vier Sterne Hotel mit dem Namen «Vieux Paris» gewandelt. Von den Beats und den ehemaligen Mitgliedern dieser Bohème sind nur noch Fotos des britischen Fotografen Harold Chapman auf den Wänden der Lobby übrig. Letztes Jahr im Sommer wurde zum fünfzigsten Jahrestag der Veröffentlichung von «Naked Lunch» auf der Fassade des Hauses eine Gedenkplakette enthüllt. Das Ereignis wurde im kleinen Kreis der noch lebenden Zeitgenossen, Forscher und Post-Beatniks begangen und von einem Symposium begleitet. Nicht nur die Architektur, auch die Künstler sind gealtert oder verschieden und für den cut-up interessiert sich nur noch eine Handvoll Akademiker und wenige Schriftsteller. Die Schnitttechnik und die zahlreichen aus ihr hervorgegangenen Formen sind im digitalen Zeitalter zu fernen, unverständlichen Exponaten geworden. Warum sollte cut-up heute noch relevant sein? Unter der obigen Pariser Adresse begann vor über fünfzig Jahren zwischen Brion Gysin und William S. Burroughs eine fruchtbare Kollaboration, die weite Schnittlinien zog, welche sich nicht nur auf Worte, Töne und Bilder beschränkten, sondern international Wege zwischen Künstlern bahnten. Der Entstehungsmythos des cut-up wurde zig-mal in verschiedensten Versionen kolportiert und kann in Kürze etwa so wiedergegeben werden: Im Herbst des Jahres 1959, beim Ausschneiden eines Passepartouts für eine Zeichnung, entdeckte Brion Gysin, dass er zufällig durch die Seiten einer darunterliegenden Zeitung geschnitten hatte. Die zerstreuten Wortschnipsel ergaben absurde semantische Kombinationen, die Gysin in frenetisches Gelächter ausbrechen ließen. Als er diese Wortspielereien Burroughs vorstellte, war dieser sofort von dem Potential dieser Methode überzeugt. Burroughs war nicht nur vom humoristischen Aspekt der Methode gebannt, sondern vor allem von der Möglichkeit der Erzeugung inten-siver Sprachbilder. Die frühen cut-ups waren noch stark von der Streuung des Zufalls geprägt, aber nach und nach wurde die Methode verfeinert und es entstanden sehr unterschiedliche Formen. Die einfachste Form des cut-up wäre ein mit Text bedrucktes Blatt Papier, welches jeweils in der Mitte horizontal und vertikal zerschnitten wird. Die herausgelösten Textblöcke können dann nach verschiedenen Mustern rekombiniert werden. Im Unterschied zu den meisten Montageverfahren ist der cut-up radikaler, da er viel stärker in die sinngebenden Einheiten des sprachlichen Zeichensystems eingreift. Bei einer Film-Montage schneidet man in den Lücken zwischen den Frames, der cut-up hingegen schneidet in die Worte und Buchstaben hinein und nutzt die Iterierbarkeit d.h. die Flexibilität der Sprache, die kleinsten ihrer Bestandteile zu verpflanzen und an andere Stellen aufzupfropfen. So könnten durch cut-up aus Schnitten schnell Schritte werden. In der Sprache funktioniert das Verfahren auch am besten, denn Bilder haben nicht die Abstraktheit eines wiederholbaren Codes wie der Sprache, obwohl textliche cutups sehr verblüffende Ergebnisse in Kombination mit Bildern liefern können. Das ist momentan auch die Kontroverse in der wissenschaftlichen Debatte um diese Technik -Wie weit kann man die Definition von cut-up ziehen? Man kann festhalten, dass der cut-up historisch und ästhetisch in der Tradition der historischen Avantgarden steht und sich in den Kontext ihrer Nachfolgebewegungen nach 1945 einreiht. Im Unterschied zu den oftmals geschlossen auftretenden Gruppen, bildeten die cut-up Monteure jedoch ein offenes Netzwerk von Kollaborateuren, die in kleinen Undergroundmagazinen ihre Texte und Collagen austauschten. Die Prämisse, wonach Worte niemandem gehören, ging sogar soweit, dass die Korrespondenz zwischen den Wortchirurgen nicht vor ihren Skalpellen gefeit war. Hierin liegt nicht nur die politische Dimension des cut-up Projektes, sondern auch die existenziell-metaphysische. Geht man nämlich davon aus, dass die Wirklichkeit und der über sie herrschende Konsens sprachlich und bildlich vermittelt sind, so wäre es nur logisch aus den Konditionierungen dieses Konsens durch Schnitte und Rekombinationen auszubrechen. Brion Gysin äußerte mal diesen Gedanken folgendermaßen: «What is fate? Fate is written ‚Mektoub' in the Arab world (...) ‚Mektoub' means ‚it is written'. So... if you want to challenge and change fate... cut up the words. Make a new world.» Es bleibt jedem selbst überlassen, sich die Frage zu beantworten, wie effektiv es ist, sich mit cut-up aus seinem Schicksal herauszuschneiden. Fest steht zumindest, dass diese Technik in den Händen dessen, der sie gekonnt einsetzt zu einem erstaunlichen poetischen Werkzeug werden kann. Natürlich muss man seine Lesegewohnheiten ändern, wenn man einen zerschnittenen Text liest und nach Bedeutungssplittern darin suchen muss, aber das kann auch eine Lusterfahrung sein. In der versprengten Materialität, die cut-up Texte und Collagen liefern, liegt nämlich die Antwort auf die Frage, weshalb diese Technik noch heute im digitalen Zeitalter relevant sein kann. Es ist der analoge Charakter des Schnitts, der Lücken und Risse sichtbar macht, die heute mit mehreren Mausklicks zu unsichtbaren Operationen geworden sind. Die brüchige Bildebene der cut-up Arrangements offenbart die materielle Arbeit am Kunstprodukt und erlaubt dem Rezipienten, in die Lücken Bedeutung zu projizieren, die ihm ein glattes digitales Bild nicht so offen bietet. In dieser Ausgabe der Fabrikzeitung haben wir versucht, die eben angerissenen Themen angemessen zur Sprache kommen zu lassen. Die Auswahl der Artikel gibt einen kleinen Ausschnitt der verschiedenen Aspekte des cut-up wieder und ließe sich ohne Frage erheblich erweitern, wären da nicht Formatvorgaben. Diejenigen, deren Interesse wir geweckt haben sollten, seien an die diversen Bücher und Artikel verwiesen, die zu dem Thema existieren. Die besten Texte für diesen Zweck sind zweifellos William Burroughs' «The Job» und das in Kollaboration mit Gysin veröffentlichte «The Third Mind», das wohl die umfangreichste Sammlung an Gedanken der beiden Väter der Methode umfasst. Das wohl extensivste Archiv und Ressourcenquelle im Netz ist das von Jed Birmingham geleitete Portal «realitystudio.org», welches zwar vordergründig dem Werk William S. Burroughs' gewidmet ist, jedoch sehr viele Informationen über die kollektiven Veröffentlichungspraktiken der Alternativpresse der 1960er und 1970er enthält. Den Einstieg in das Thema macht Oliver Harris, der Herausgeber von Burroughs' Briefwechseln und einer der besten Kenner des Frühwerks des Autors, mit seinem Beitrag «Beat Hotel / Cut-up Headquarters». Harris zeichnet darin die intellektuelle At-mosphäre im Beat Hotel nach und zeigt auf welche Entwicklungen zur (Wieder-) Entdeckung des cut-up geführt haben. Ein zentraler Punkt des Artikels zeigt auf Differenzen zwischen den Beats und der von Gysin und Burroughs begonnenen Zusammenarbeit auf, welche deutliche andere ästhetische Ziele verfolgte. Nach dieser historischen Einleitung hat uns Jürgen Ploog mit einem Originalbeitrag beehrt, in dem er die verschiedenen technischen und ästhetischen Facetten und die Potenziale des cut-up auslotet, nicht ohne an manchen Stellen das Skalpell anzusetzen. Jürgen Ploog ist einer der besten Burroughs Kenner im deutschen Sprachraum und einer der wenigen der eine angemessene Form für die cut-up Technik in der deutschen Sprache gefunden hat. Mit Carl Weissner gab Ploog in den 1970er und 1980er Jahren die Zeitschrift «Gasolin 23» heraus. Informationen zu und Ausschnitte aus seinem Werk können unter www.ploog.com abgerufen werden.