Lucian Research Papers - Academia.edu (original) (raw)

(1) Die Philosophie unterliegt qua Philosophie der Notwendigkeit, sich selbst und anderen (vornehmlich der sie umgebenden politischen Gemeinschaft einschließlich ihrer religiösen Normen) Rechenschaft über sich, über ihr Warum und Wozu,... more

(1) Die Philosophie unterliegt qua Philosophie der Notwendigkeit, sich selbst und anderen (vornehmlich der sie umgebenden politischen Gemeinschaft einschließlich ihrer religiösen Normen) Rechenschaft über sich, über ihr Warum und Wozu, abzulegen. Die Philosophie muß sich deshalb auch damit auseinandersetzen, daß nicht alle, die sich als Philosophen mit dem guten Leben befassen, selbst in ihrem Leben die philosophisch gewonnenen Erkenntnisse über das gute Leben ins Werk setzen. Die Philosophie kann bzw. muß aus der Sicht einer dem Herkommen verpflichteten Gesellschaft bedenklich oder gar gefährlich erscheinen, weil das Philosophieren die ungeprüften moralischen Unterscheidungen, auf denen der Zusammenhalt der Gesellschaft beruht, in Zweifel zu ziehen scheint. Die Philosophie, die sich um Erkenntnis der Prinzipien moralischen Handelns bemüht und in allem nicht nach dem Überlieferten, sondern nach dem Guten fragt (cf. Aristoteles, Politik II 8, 1269a3-4), kann so von der Gesellschaft als Zersetzerin der traditionellen Moral verstanden werden, wie es auch tatsächlich vielfach geschah. Diese philosophische Befragung der politischen und moralischen Meinungen verkörperte sich in der Geschichte der Philosophie am prägnantesten in der Person des Sokrates, der den politisch-philosophischen Sinn seines Lebens darin sah, die Stadt so wie eine Bremse oder Stechmücke ein Pferd aus ihrer Selbstgenügsamkeit aufzuwecken und sie zu ermahnen, sich um die Tugend zu sorgen (Apologie 30e; 31b; siehe auch Cicero, Tusculanae Disputationes V 10). Sokrates verstand mit vielen antiken Philosophen Philosophie als eine Lebensweise, die der Erkenntnis gewidmet ist, als theoretische Lebensform, die in sich ein ethisches Moment birgt. Die Tugend des Philosophen stellte die notwendige Voraussetzung für die Freiheit seines Denkens dar. Sokrates bestand aber auch darauf, daß das Interesse an der Lebensführung des Philosophen nicht das Interesse an der Sache der Philosophie selbst verdunkeln sollte. Am Schluß des Euthydemos, in dem Sokrates von einer seiner lebhaftesten Auseinandersetzungen mit den Sophisten, welche nur dem Anschein nach Philosophie treiben, berichtet, geht Sokrates auf die Sorge Kritons ein, er könne seine Söhne nicht gut zur Philosophie aufmuntern (protre/ pein), da ihre Lehrer oftmals verkehrt oder merkwürdig (a0 llo/ kotov) zu sein scheinen (306e-307a). Sokrates nimmt diese Sorge auf und weist darauf hin, daß "in jedem Geschäft der schlechten viele sind, und diese nichts wert, der trefflichen hingegen nur wenige, diese dann aber auch alles wert" (307a-b). Sokrates schließt die Unterredung mit der Mahnung, Kriton solle ganz die beiseite lassen, "die sich der Philosophie befleißigen, ob sie gut sind oder schlecht, und nur die Sache selbst recht gut und gründlich prüfen". Erscheine die Sache ihm schlecht, solle er jedermann davon abraten, erscheine sie ihm aber gut, sollen er selbst und seine Kinder sie üben (307c). Platon läßt also hier, wie auch im Phaidon (91c) und Gorgias (505e-506a), Sokrates den Blick von der Person und ihrer Lebensführung hin auf die Sache lenken und erkennt ausdrücklich an, ja fordert dazu auf, die Philosophie selbst zu prüfen, ob sie gut ist oder schlecht. Diejenigen, die Sokrates nachfolgen wollen, sollen sich wenig um den Sokrates kümmern, sehr dagegen um die Wahrheit. Platon weist somit in der entscheidenden Hinsicht über sich selbst hinaus. Platon weist über sich selbst hinaus auf Sokrates und damit zugleich in der Person des Sokrates auf die Sache, die zwar in dieser Person verkörpert, jedoch nicht mit ihr identisch ist. Der Tod des Sokrates bedeutet deshalb auch nicht das Ende der Philosophie. Indessen hat das Leben des Sokrates doch gleichsam paradigmatische Bedeutung, gerade weil es ein Leben war, dem es zuallererst um die Sache der Philosophie als der Suche nach dem guten Leben sowie der Suche nach bleibenden Wahrheiten geht, nach dem, was immer ist. Sokrates erweist sich in der Darstellung Platons