Precariat Research Papers - Academia.edu (original) (raw)

Ihr Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der filmischen Darstellung von Armut und gesellschaftlicher Randständigkeit. Hat der Film als fotografisches und narratives Medium ein besonderes Interesse an diesen, heutzutage auf den ersten... more

Ihr Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der filmischen Darstellung von Armut und gesellschaftlicher Randständigkeit. Hat der Film als fotografisches und narratives Medium ein besonderes Interesse an diesen, heutzutage auf den ersten Blick ja oft wenig auffälligen Phänomenen? Schon die Frage nach der Auffälligkeit ist interessant. Ich selbst stelle fest, dass ich die Armut auf den Straßen des Stadtteils, in dem ich wohne (Berlin Kreuzberg), ganz anders wahrnehme, wenn ich nach einer Reise aus einer Stadt, in der es weniger sichtbare Armut gibt, nachhause komme. Das eigentlich immer sichtbare Elend wird mir dann deutlicher bewusst, während der alltägliche Anblick von Flaschensammlerinnen, Alkoholikern oder Verkäuferinnen von Obdachlosenzeitungen bei mir auch zu einem Gewöhnungseffekt führt. Gleichzeitig handelt es sich bei diesen deutlich sichtbaren ja nur um die extremeren, öffentlichen Formen von Armut. Die meisten Probleme finden jedoch hinter verschlossenen Türen statt oder manifestieren sich vielleicht daran, dass Schülerinnen nicht mit den Kleidungs-oder Freizeitstandards ihrer Klassenkameradinnen mithalten können, weil der Vater arbeitslos ist und die Mutter nur einen Minijob hat oder so. Ich denke, dass der Film über eine ganze Bandbreite an Möglichkeiten verfügt, Probleme wie sozialen Ausschluss und Prekarität sichtbar zu machen. Die Fragen, die mich vorrangig interessieren, sind die nach den filmischen Mitteln und nach deren möglichen Effekten. Also: Wie wird Armut dargestellt, wie werden Geschichten über prekäre und ausgegrenzte Menschen erzählt und mit welchen Implikationen? Handelt es sich um individuelle Schicksalsschläge oder um politische und ökonomische Zusammenhänge, die filmisch aufbereitet werden? Wie gelingt es Filmen, die Kontexte in den Blick zu bekommen? Was können wir durch die Filme über die Gesellschaft, in der wir leben, lernen? Wie nah erlauben uns die Filme, den Menschen oder den Figuren zu kommen? Da mich dabei, wie gesagt, die gesamte Bandbreite interessiert, möchte ich mit meinem Team auch mit den verschiedenen Gattungen des Spiel-und Dokumentarfilms beschäftigen, und auch mit anderen und neuartigen Formaten wie etwa aktivistischen Webvideos. Jeweils scheinen mir die Gattungen und Medien unterschiedliche Potenziale zu besitzen, um Armutsphänomene zu reflektieren. Spielfilme können vielleicht aufgrund ihrer Dramaturgie und ihrer Figurengestaltung besonders zur Empathie mit den Figuren einladen, während Dokumentarfilme den realen Begebenheiten auf die Spur kommen und damit Wirklichkeitsbereiche für uns im Wort Sinn ent-decken können. Web-basierte Formate wiederum müssen aufgrund ihrer Kürze oft pointierter arbeiten, sind dafür aber meist in mediale Umgebungen eingebettet, die wiederum die Wirkung beeinflussen und durch die sie evtl. eine größere Reichweite bekommen und unmittelbar Diskussionen auslösen können. Anders gesagt: Ich glaube nicht zwingend, dass der Film als Medium von sich aus ein besonderes Interesse an den genannten Phänomenen hat. Aber ich glaube, dass er besondere Möglichkeiten aufweist, um uns damit zu konfrontieren. In welchem Maße und wie diese Möglichkeiten genutzt werden, ist Gegenstand unserer Untersuchungen. Je nach angelegten Kriterien ist das Material, das für die Untersuchung in Frage kommt, sehr umfangreich. Wie haben Sie die Filme ausgewählt? Der Fokus des Projekts liegt auf europäischen Filmen der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit, grob gesagt von den 1990ern bis heute. Mich interessiert, wie wir uns auf diesem Kontinent über unsere Lebensbedingungen und über die herrschenden Verteilungsungerechtigkeiten verständigen. Ein wichtiges Kriterium ist dabei, dass Armut, Prekarität oder Exklusion in den Filmen wirklich zentral thematisiert werden, also dass nicht nur kurz mal eine Obdachlose ins Bild gerät und dann wieder verschwindet. Es geht schon um den genaueren Blick darauf, um die filmische Diskursivierung verschiedener Facetten des sozialen Ausschlusses. Wie groß das Gesamtkorpus tatsächlich ist, wird sich wahrscheinlich erst nach einem Jahr Forschung zeigen, wenn wir als Gruppe systematisch mögliche Quellen wie etwa Festivalkataloge und andere verfügbare Publikationen ausgewertet haben. Momentan verfüge ich über eine Liste, die ich permanent erweitere, wenn mir relevante Filme begegnen, von der ich jedoch sicher bin, dass sie keineswegs vollständig ist. Das sind zur Zeit ca. 100 europäische Spielfilme zwischen 1991 und 2018 und etwa 50 Dokumentarfilme im selben Zeitraum. Natürlich können nicht alle Filme, die wir finden, gleichermaßen detailliert analysiert werden, aber wir werden