Transcendental Aesthetic Research Papers - Academia.edu (original) (raw)
Die Bestimmung der Rolle der Sinnlichkeit in ihrem Verhältnis zum begrifflichen Denken ist zentral für die Analyse des Verhältnisses zwischen Husserl und Kant, und dies insbesondere in Bezug auf deren Verständnis der... more
Die Bestimmung der Rolle der Sinnlichkeit in ihrem Verhältnis zum begrifflichen Denken ist zentral für die Analyse des Verhältnisses zwischen Husserl und Kant, und dies insbesondere in Bezug auf deren Verständnis der Transzendentalphilosophie und der Möglichkeitsbedingungen von Erfahrung und Erkenntnis. Trotz der Anerkennung der "einzigartigen Genialität" Kants 1 äußert sich Husserl nämlich kritisch sowohl gegenüber Kants Verständnis des Umfangs der transzendentalen Ästhetik als auch gegenüber der damit verbundenen Theorie der sinnlichen Erfahrung. 2 Diese Kritiken münden oft in eine allgemeinere Beurteilung der kantischen Transzendentalphilosophie, die formell und konstruktiv angelegt sei, und betonen somit den Kontrast zum rein deskriptiven Verfahren der Phänomenologie. 3 Die Rolle der Sinnlichkeit und ihr Verhältnis zum begrifflichen Denken lassen sich sowohl bei Kant als auch bei Husserl anhand des Problems der sinnlichen Regelmäßigkeit oder sinnlichen Ordnung durchdenken. Die leitenden Fragen der vorliegenden Untersuchung, die wir sowohl an Husserls als auch an Kants Texte richten werden, beziehen sich gerade auf dieses Problem und können folgendermaßen formuliert werden: Lässt sich eine immanente und von höheren kognitiven Leistungen unabhängige Regelmäßigkeit im sinnlichen Bereich anerkennen? Ist diese Regelmäßigkeit nur aposteriorisch festzulegen oder stellt sie vielmehr einen wesentlichen Zug der Erfahrung dar, ohne den keine Erkenntnis möglich wäre? Welche Implikationen hat die jeweilige Auffassung der sinnlichen Regelmäßigkeit für das kantische und husserlsche Verständnis der Möglichkeitsbedingungen von Erfahrung und Erkenntnis? Um diese Fragen zu beantworten, werde ich a contrario argumentieren und das Problem der Regelmäßigkeit im sinnlichen Bereich bei Kant und Husserl anhand der Hypothese ihres Mangels, d.h. anhand der Hypothese des Chaos, verfolgen. Diese Analyse ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Zum einen ermöglicht uns die Überlegung zur Regelmäßigkeit bzw. zur Annehmbarkeit oder Unannehmbarkeit des Chaos im sinnlichen Bereich, einige Aspekte der phänomenologischen Kritik an Kant zu hinterfragen. Zum anderen, und theoretisch wichtiger, wird uns die Revision einer solchen Kritik ermöglichen, das Problem der Möglichkeitsbedingungen von Erfahrung und Erkenntnis nicht anhand des Gegensatzes zwischen beiden Positionen, sondern vielmehr mit Husserl und Kant erneut zu erörtern. Unsere Fragestellung bezüglich der Regelmäßigkeit oder Ordnung im sinnlichen Bereich lässt sich an drei Aspekten der husserlschen Kritik an Kant genauer erklären, die in der phänomenologischen Literatur von verschiedenen Autoren aufgenommen wurden. Der erste Aspekt betrifft die Bestimmung der Regelmäßigkeit im sinnlichen Bereich als a priori oder aber a posteriori. Bezüglich der Empfindungen oder der "Materie" der Erscheinungen spricht sich Kant sehr deutlich für die These aus, dass sie nur a posteriori gegeben sein können und dass nur die Formen des inneren und äußeren Sinnes konsequenterweise das Apriori in der transzendentalen Ästhetik ausmachen (KrV B 34/A 20). In diesem Sinne scheint Kant das Apriori eben formal zu verstehen, d.h. als bezogen auf die Formen und nicht auf die "Materie" der Erscheinungen. 4 Husserl besteht stattdessen darauf, dass es ein "materiales Apriori" gibt, das sich nicht formalisieren lässt und eben die Gesetzmäßigkeit des Zusammenhanges von Inhalten ausmacht. 5 Diesbezüglich ist aber zunächst fraglich, ob Kant und Husserl mit Form und Formalisierung dasselbe meinen. 6 Und ferner stellt sich die Frage, ob Kants Bemerkungen bezüglich der sinnlichen Regelmäßigkeit nur als empirisch zu verstehen sind oder ob sie einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit haben. Letzteres würde implizieren, dass die materiellen eidetischen Gesetze im Sinne Husserls zwar nicht thematisch, aber möglicherweise operativ auch bei Kant zu finden sind. Der zweite Aspekt betrifft den Zusammenhang zwischen Subjektivität und Apriori. Husserl kritisiert diesbezüglich Kants Position, nach der das Apriori auf den Strukturen der menschlichen Subjektivität beruht und daher a parte subjecti bestimmt wird. Damit verbindet sich die bekannte Anthropologismuskritik, die sich vor allem auf die Lehren des intellectus archetipus, des Dings an sich und der Vermögen des menschlichen Gemüts richtet. 7 Kurz formuliert: Für Husserl impliziert die Bestimmung des Apriori anhand von subjektiven Strukturen (also anhand der faktischen menschlichen Vermögen) eine Begrenzung des Anspruchs auf Allgemeingültigkeit und somit auch eine letztendlich kontradiktorische Relativierung des Apriori selbst. Dagegen versteht Husserl die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit des Apriori, das für ihn gleichbedeutend mit den 4 Vgl. dazu Kern 1964, 55f. und De Palma 2001. 5 Vgl. Hua XIX/1, 255f. 6 Ich werde dieses Problem in diesem Aufsatz nicht ausführlich diskutieren können. Für eine genauere Diskussion vgl. Summa 2014b, Kapitel 2. 7 Vgl. dazu Hua VII, 208 f. u. 357 f. 2 eidetischen Gesetzen ist, als Gültigkeit für jedes mögliche und auch nur denkbare Subjekt. 8 In diesem Sinne lässt sich das Apriori nicht anhand der faktischen Strukturen der Subjektivität bestimmen, sondern muss a parte objecti bestimmt werden, d.h. anhand der Strukturen des Erscheinenden als solchen. Für die Frage nach der Regelmäßigkeit bedeutet dies eine unterschiedliche Auffassung der Ursprungsstätte der Ordnung: Während die Regelmäßigkeit bei Kant erst in den Leistungen der transzendentaler Apperzeption zu finden ist, gründet sie sich bei Husserl auf die innere Selbststrukturierung von sinnlichen Inhalten. 9 Der dritte Aspekt der husserlschen Kritik schließlich betrifft das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Verstand oder Sinnlichkeit und begrifflichem Denken. Husserl versteht dieses Verhältnis anhand einer geschichteten Architektonik der Erfahrung. 10 Innerhalb dieser Architektonik bezeichnet die Sinnlichkeit einen autonomen Bereich der Konstitution, der durch eine selbstständige Regelmäßigkeit gekennzeichnet ist und als solcher für das begriffliche und prädikative Denken als fundierend gilt. Dagegen ist die Sinnlichkeit bei Kant ein heteronomer Bereich der Erfahrung, denn seine Gesetzmäßigkeit kann erst aus den Kategorien des Verstanden gerechtfertigt werden. Damit verbindet sich der berühmte Gegensatz zwischen der Idee einer Fundierung von Erfahrung und Erkenntnis von unten bei Husserl und der Idee ihrer Rechtfertigung von oben bei Kant. 11 Bei der Betrachtung der Positionen von Kant und Husserl bezüglich der Regelmäßigkeit der Erfahrung soll besonders die Tragweite dieser Gegenüberstellung überprüft werden. Dabei werde ich die These vertreten, dass die beiden Herangehensweisen der Fundierung von unten und der Rechtfertigung von oben sich nicht notwendigerweise wechselseitig ausschließen. Die Betrachtung der Hypothese des Chaos soll es uns im Folgenden ermöglichen, die Tragweite dieser drei Aspekte der husserlschen Kritik an Kant zu überprüfen. Sowohl bei Kant als auch bei Husserl verbindet sich nämlich die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis mit dieser Hypothese, die als kontrafaktisch zu betrachten ist. Angenommen, dass es de facto eine gewisse Regelmäßigkeit in den Erscheinungen gibt, so stellt sich die Frage, ob Erfahrung und Erkenntnis noch möglich wären, wenn die Erscheinungen unregelmäßig, d.h. chaotisch, gegeben