Vincent Van Gogh Research Papers (original) (raw)
Die visuelle Semiotik ist ein neues Wissenschaftsgebiet, das vielfältige Wurzeln hat.1 Entsprechend gibt es eine Vielfalt von Ansatz- und Schwerpunkten, von denen die Darstellung ausgehen kann. In diesem Buch versuche ich, dieser Vielfalt... more
Die visuelle Semiotik ist ein neues Wissenschaftsgebiet, das vielfältige Wurzeln hat.1 Entsprechend gibt es eine Vielfalt von Ansatz- und Schwerpunkten, von denen die Darstellung ausgehen kann. In diesem Buch versuche ich, dieser Vielfalt ge- recht zu werden, d.h. es wird eine Gesamtdarstellung, wenn möglich eine Synthese angestrebt. Damit unterscheidet sich das Buch von Ansätzen, die einseitig in der Sprachwissenschaft/ Rhetorik, der traditionellen Kunstgeschichte oder der philoso phischen Ästhetik, der Medientheorie oder gar der Kunstpsychologie und -soziolo- gie ihren Schwerpunkt setzen. Die bisherige visuelle Semiotik wird außerdem um zwei Gesichtspunkte erweitert, die sich aus der Konzeption einer dynamischen Se- miotik ergeben. Die neuen Gesichtspunkte betreffen erstens Aspekte der Morpho genese und Selbstorganisation, d.h. jede Zeichenstruktur erhält Form und Inhalt in einem Prozess, den man metaphorisch eine Morphogenese (in Bezug zur Biologie) oder eine Semiogenese nennen kann. Wenn eine Vielzahl zusammenwirkender Ge- staltungsprozesse vorliegt, spricht man auch von Selbstorganisation. Die Gegen- begriffe sind Chaos oder endlose Fraktalisierung, d.h. die Auflösung einfacher Ord- nungen. Entsprechend kann jedes Produkt einer Zeichenerzeugung (einer Semioge- nese) auf seinen Erzeugungsprozess und die dort wirkenden Gesetzmäßigkeiten be- fragt werden. Dies unterscheidet unseren Zugang dramatisch vom klassischen Strukturalismus (etwa bei de Saussure oder Chomsky). Dort werden solche Erklärungen für aussichtslos gehalten und es wird versucht, jede Struktur aus sich selbst oder aus zeitlosen (z.B. logischen) Gesetzen zu erklären.2 Natürlich sind die Mög- lichkeiten einer Rekonstruktion der Genese häufig begrenzt, aber überall dort, wo ein plausibler Ansatz möglich ist, muss diese Fährte verfolgt werden. Dies führt zum zweiten Charakteristikum unseres Ansatzes, der Thematisierung der Ur sprungsfrage und der Berücksichtigung evolutionärer Vorgänge und Gesetzmäßig keiten. Für die Sprache ist dieser Ansatz in Wildgen (2004a) und in weiteren Detail- arbeiten ausgeführt worden, wobei die Sprache immer im Konzert anderer symbolischer Formen, wie Mythos, Technik, Kunst gesehen wird. Die parallele und koor- dinierte Evolution der symbolischen Formen (im Sinne Cassirers) verbindet die vi- suelle Semiotik mit der sprachlichen und diese Interaktion wird in Kap. 10 auch zum Thema.
In manchen Werken zur visuellen Semiotik stehen entweder das Bild (in der Kunst), das Design, die Buchillustration (siehe etwa Kress und van Leuuwen, 1996), Computergrafiken oder Computerspiele oder andere Teilfelder der visuellen Umwelt im Vordergrund. Mir war es ein Anliegen, die ganze Breite des visuellen Zeichenrepertoires zu erfassen, von der Handskizze eines Höhlenmalers bis zur klassischen Kunst und der Kunst des 20. und 21. Jh., von der Skulptur der Steinzeit bis zur klassischen und modernen Architektur und zum Städtebau. Dabei steht die Alltagskultur neben raffinierten, in einer langen Tradition verankerten Kunstwerken (siehe das Sujet des Abendmahls in Kap. 3.1). Generell wird eine Analyse der For- menvielfalt (der Morphologie im Sinne Goethes) bezweckt und es wird eine an schauliche und alltagsweltlich plausible Beschreibung und Erklärung angestrebt. Auf diesem Hintergrund werden, auch unter Heranziehung von mit dem Kunstwerk zeitgenössischen Theoretisierungen (siehe zu Leonardo Kap. 3.1 und 3.2), weiter- reichende Hypothesen gebildet, die bevorzugt auf Prinzipien der Gestaltwahr- nehmung, der Semiogenese und der Selbstorganisation zurückgreifen.