Anton Bruckner (original) (raw)

Es gibt das Werk, und es gibt seinen Urheber. Je näher und von je weiter weg man auf beide hört und schaut, umso faszinierender werden beide. Und desto fragwürdiger erscheinen die stereotypen Zuschreibungen, die dem Menschen und Komponisten zusammen mit seinem Oeuvre im Lauf von Jahrzehnten zuteil geworden sind. Nimmt man das Werk, so besteht es aus mehr als den neun Sinfonien, drei Messen, dem Te Deum, der Handvoll Motetten und dem einen Streichquintett. Nicht zu vergessen die Stücke für Klavier, die Chöre und Kantaten.

Denn Bruckner war auch einer der führenden, wenn nicht überhaupt der beste Organist und Improvisator seiner Zeit. Als Organist spielte er sich nicht nur an seinen Stammorgeln in der Sankt Florianer Basilika, im Alten Dom zu Linz und später in der Hofburgkapelle in Wien rauschhaft frei, sondern auch auf seinen mannigfachen sommerfrischen Wanderungen und Reisen in Oberösterreich. Ausflüge, die er unternahm, um Verwandte, Kolleg:innen, Freund:innen und Gönner:innen zu besuchen. Bruckner orgelte verbürgterweise in Bad Ischl und Bad Goisern, in Wels und Vöcklabruck, in Wilhering und Kremsmünster, in Steyrling und Steyr, in Sankt Marienkirchen an der Polsenz und wer weiß wo noch. Was er dabei im Moment erschuf, hat niemand aufgezeichnet und muss als verloren gelten. Das gilt auch für seine von Tausenden gefeierten Auftritte in Paris, Nancy und London, wo er wie ein Rockstar seiner Epoche im Crystal Palace und in der Royal Albert Hall Furore machte.

In der Musikgeschichte steht Bruckner für einen Wendepunkt: Auf höchstem Niveau in den klassischen Kompositionstechniken ausgebildet und fest in der Musiktradition verankert, entwickelte der leidenschaftliche Fan von Beethoven, Schubert, Berlioz und Wagner selbst eine musikalische Sprache, die so neu war, dass sie viele seiner Zeitgenoss:innen irritierte und manche gar verstörte. Zu ihrer Grammatik zählten Neuerfindungen wie die Überblendung und der Schnitt. Sowie Kunstgriffe, die zuvor tabu waren. Wie die Wiederholung, die man heute vielleicht eher als ‚Loop‘ bezeichnen würde, und die Generalpause mitten im Satz als musikalische Vorwegnahme der späteren Schwarzblende im Film.

Katholisch ist die Musik des – vermeintlichen oder leibhaftigen – ‚Musikanten Gottes‘ vielleicht am ehesten in ihrer Tendenz zum überwältigend Erhabenen. Dem gegenüber steht Bruckners musikalische Prägung als Landlergeiger, der nächtelang zum Tanz aufspielte und leidenschaftlich gerne und gut Quadrille zu tanzen vermochte. Ebenso wie der Umstand, dass sich der Berufsmusiker nicht zu schade war, mit der Liedertafel Frohsinn ein Laienensemble zu dirigieren, im Urlaub die Proben örtlicher Männergesangsvereine zu besuchen und ihnen kleine Musikstücke zu schreiben und zu widmen. Woran zu sehen ist, dass der Professionist Bruckner sich nie über die Augenhöhe mit seinen musizierenden Zeitgenoss:innen erhob.

Selbstverständlich gehören zu Bruckner auch seine Hochwasserhosen, die überweite Kleidung, das unmäßige Essen und sein Trinken auf hohem alkoholischem Niveau. Ebenso wie sein bizarres Verhältnis zu Frauen, die er hinsichtlich ihrer potenziellen Mitgift fallweise regelrecht ausspionieren ließ. Dito sein neurotischer Zählzwang, sein Drang nach Titeln, Zeugnissen und anderen Beglaubigungen seines Könnens sowie seine morbide Faszination für Gräber und Leichen. Zu Bruckner gehören aber auch eine beachtliche Kondition als Fußreisender, die Tatsache, dass er ein ausgezeichneter Schwimmer war und seine Sanftheit Kindern gegenüber, die ihn zu einem beliebten Lehrer machte. Plus seine Wissbegier, die ihn an den Fuß des Mont Blanc und – aus freien Stücken – in den Kerker von Burg Altpernstein führte.

Vielfach hat sich das Bild von Bruckner als tollpatschigem und kaum selbsterhaltungsfähigem Sonderling verfestigt, was jedoch über seine beeindruckende Karriere hinwegtäuscht: Als Lehrer, Hochschullehrer, k.k. Hoforganist und Ehrendoktortitelträger gehörte der Oberösterreicher nicht nur daheim, sondern auch in der Weltstadt Wien zu den oberen Zehntausend und damit zur gebildeten gesellschaftlichen Elite.

Als Komponist neuer Musik waren ihm auch Misserfolge beschieden, doch kam es noch zu Bruckners Lebzeiten zu gefeierten Werkaufführungen unter anderem in München, Leipzig und Berlin sowie in New York, Boston, Philadelphia und Chicago. Auch die erste Bruckner-Biografie erschien noch vor seinem Ableben im Kustodenstöckl des Belvedere, das er dem Segen von Kaiser Franz Josef mietfrei bewohnen durfte. Dank seines Einkommens als Hochschullehrer, etlicher Stipendien und Förderungen verstarb Bruckner als wohlhabender und vermögender Mann.

128 Jahre später bietet der 200. Geburtstag des in fast jeder Hinsicht außergewöhnlichen Menschen und Künstlers die Gelegenheit, sich ihm und seiner Arbeit unvoreingenommen zu nähern und beide neu zu entdecken – für sich wie für ganz Oberösterreich.

ab 2024 schenken wir ihm und uns sein gesamtes Werk, um so endlich den ganzen Bruckner kennenzulernen und die Musik für den Menschen sprechen zu lassen.