Zur Lage der Nation: Klumpfüße (original) (raw)
Humpeln – was ist das eigentlich? Es ist zunächst ein umgangssprachlicher, volkstümlicher Ausdruck; korrekt muss es „hinken“ heißen. Dass jetzt, im Zusammenhang mit Michael Ballack, ausschließlich von „humpeln“ und nicht von „hinken“ die Rede ist – „Michael Ballack humpelte aus der Praxis.“ –, mag immerhin andeuten, wie sehr sich die Bevölkerung mit dieser „ein- oder beidseitigen Gangstörung“, wie die amtliche, aber noch sehr allgemeine und das Leiden in allen seinen Facetten bei weitem nicht erfassende Definition lautet, bereits identifiziert. Tut sie auch gut daran?
Schlagzeilen wie „Ballack humpelt, Deutschland leidet“ sind auch deswegen mit Vorsicht zu genießen, weil mit ihnen, über das in diesem Fall nur zu begreifliche Mitleid mit dem Spieler und das Bangen um WM-Chancen hinaus, auf tiefere Zusammenhänge angespielt werden könnte, die kein gutes Licht auf unsere Gesamtsituation werfen. Wie leicht wird eine ganze Nation zum kranken Mann!? Und die Griechen waren vor sechs Jahren noch Europameister! „Ballack leidet, Deutschland humpelt“ wäre jedenfalls die schlimmere Diagnose.
Unter den berühmten Hinkenden der Menschheitsgeschichte – Tutanch-amun, Lord Byron, Frida Kahlo, Joseph Goebbels, Charles Laughton und Graf Lambsdorff – gab es wohl keinen, dem man hätte unterstellen können, er hinke, obwohl er es eigentlich gar nicht müsste. Man spräche in diesem Fall vom „psychogenen“ oder „hysterischen“, dem „freiwilligen Hinken“. Es hat den Vorteil, schmerzlos zu sein – bis es sich dann aber doch in ein reales Leiden verwandelt, wie dies dem Schauspieler Hugh Laurie passierte, der sich in seiner Rolle als Fernseharzt „Dr. House“ mit künstlichem Hinken am Krückstock seine Knie ruiniert hat.
Oder man denke an das „Ehrenhinken“ Jaakobs aus Thomas Manns Josephsroman: Der Patriarch, obwohl durch einen unschönen Vorfall wirklich lädiert, übertrieb es in gewissen Situationen, um seine Würde zu erhöhen – kein schlechter Trick, den besser auch Horst Köhler angewandt hätte, von dem die Kollegen der „Süddeutschen Zeitung“ gerade mitteilen, er habe sich absichtlich als Letzter zu einem Termin chauffieren lassen, um auf diese Weise bedeutender zu erscheinen. Ein Hinken mit schmerzverzerrtem Gesicht hätte überzeugender gewirkt. Captain Ahab dagegen, der wohl berühmteste Hinkende der Literaturgeschichte, der sich sein Ersatzbein aus dem Kieferknochen eines Pottwals schnitzen ließ, büßte seine Seele ein und führte auf seinem fanatischen Rachefeldzug eine ganze Mannschaft in den Untergang. So weit sollte unser Kapitän natürlich nicht gehen.