Zu neuen Ufern: Frankfurter Poetik-Vorlesung (original) (raw)

Es gibt schlechtere Ferienorte als die Schauplätze der Bücher von Christian Kracht. Während andere Autoren sich an Dresden abarbeíten oder ihre Hamburger, Berliner und Stuttgarter Wohnort-Biotope beackern, fängt Kracht auf Sylt an und hört in Asien nicht auf. Eine Fahrt quer durch Deutschland von der Nordsee hinab an den Bodensee absolviert der seltsam teilnahmslose, aber überaus redselige Erzähler in „Faserland“, dem Debütroman, mit dem Kracht kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag auf einen Schlag bekannt wurde. Eine Fahrt in die deutschen Überseegebiete auf der Insel Neuguinea und den umliegenden Eilanden der Südsee steht am Anfang von „Imperium“, seinem vor sechs Jahren erschienenen, bisher besten, vielschichtigsten und trickreichsten Roman. Dazwischen und drum herum kreuzt er die Schweizer Geschichte mit der der Oktoberrevolution („Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“, 2008) und verknüpft das Deutschland der frühen dreißiger Jahre mit japanischem Grusel, den Träumen und Traumata des Kinos sowie Vorahnungen kommender Gewaltherrschaft („Die Toten“, 2016).

„Emigration“ nennt Kracht die drei Vorträge seiner Frankfurter Poetikvorlesung. Es ist ein Wort, das zum Leben des 1966 als Sohn eines Deutschen im Schweizer Kanton Bern zur Welt gekommenen Autors, der sich in zahlreichen Ländern Asiens herumgetrieben hat und heute in Kalifornien lebt, ebenso passt wie zu seinem Werk, das ebenfalls erst an anderen Orten, in der Suche, auf dem Weg, in der Verknüpfung von Herkunft und Zukunft zu sich selbst findet.

 

Ihren seinerzeit ziemlich sensationellen Einstand hatte diese Haltung mit der desillusionierten Sinnsuche in „Faserland“, angesiedelt irgendwo zwischen dem „Fänger im Roggen“ und den „Blumen des Bösen“, kälter als Salingers Roman, biederer als Baudelaires Gedichte. Weltschmerz und Ennui waren trotzdem vorhanden, Dandyismus und Schnöseligkeit der dargestellten Welt kamen hinzu, rasch war das Wort von der Popliteratur geboren, an der die einen eine neue Verspieltheit, andere ihre Kühle genossen. Dabei hätte man das P-Wort schon damals getrost beiseitelegen können. Von Anfang an ging es Kracht um Unerreichbares unter der reich geschmückten Wirklichkeitsoberfläche, an der der Erzähler ratlos herumkratzt.

Die nächtliche Bootsfahrt hinaus auf den Zürichsee, mit der „Faserland“ schließt, lässt sich schließlich genauso gut als Übersetzen über den Totenfluss lesen. Seit zu dieser sorgfältigen motivischen Unterfütterung der Oberflächenreize die Vergangenheit, die Geschichte und die räumliche Ferne getreten sind, haben seine Bücher an Tiefe gewonnen, ist deutlicher geworden, worauf er hinaus will: kein Festnagelnlassen, kein Ende der Beweglichkeit.

Wie seit dem vorigen Semester üblich, umfasst Krachts Vorlesung lediglich drei anstelle der früher üblichen fünf Vorträge. Da er aus den Vereinigten Staaten anreist, folgen sie rasch aufeinander. Vielleicht erzählt er an einem der drei Abende ja, wohin es ihn am Schreibtisch als nächstes treibt.