Wie Kunsthandwerk mit Stroh ein Revival erlebt (original) (raw)
Es ist die Zeit, die Stroh zu einer Kostbarkeit machen kann. Die Zeit, die es braucht, um die Halme zu ernten, zu trocknen und zu färben, die Zeit, um sie aufzuschneiden, zu glätten, einzeln aufzukleben und schließlich zu polieren. Und dann natürlich die Zeit, die ein Handwerker investieren musste, um den Umgang mit dem vermeintlich banalen Alltagsmaterial überhaupt zu erlernen.
„Wie jedes Kunsthandwerk erfordert auch die Beherrschung der Strohmarketerie Geduld, Zeit und viel Übung“, sagt Alberte Svendsen. „Es ist keine Fertigkeit, die sich leicht meistern lässt.“ Aber eine, die Stroh in Gold zu verwandeln scheint, fast wie im Märchen: Denn das Endprodukt, die aus den Halmen zusammengesetzten Oberflächen, betören mit ungeahnten visuellen Effekten. „Stroh ist ein bescheidenes Material, das mich immer wieder durch seine Schönheit fasziniert. Sein metallischer Glanz spielt auf überraschende Weise mit dem Licht und verleiht den Farben eine ungeahnte Tiefe“, sagt die 27 Jahre alte Dänin, eine ausgebildete Möbelschreinerin, die Objekte aus Holz fertigt und sie komplett mit Stroh überzieht. Nach Art traditioneller kunstgewerblicher Marketerien, aber mit zeitgenössischen, grafischen Mustern. Wie lange sie tatsächlich braucht für eine ihrer farbenfrohen Boxen, verrät sie nicht: „Betriebsgeheimnis!“ Auf jeden Fall sei die Arbeit zeitintensiv, „und es gibt keinen Weg, den Prozess zu beschleunigen“.
Monotone Arbeit, faszinierendes Ergebnis: Möbeltischlerin Alberte Svendsen aus Dänemark hat die Techniken in Paris erlernt.Fotos: Julie Vöge Hansen
Der deutsche Designer Sebastian Herkner ist der Aura der Halme ebenfalls schon erlegen: „Mich fasziniert die natürliche Farbigkeit des Materials, in dem sich das Licht fast magisch spiegelt.“ Herkners Bestseller-Tisch Bell Table gibt es seit diesem Jahr auch mit einer Platte aus Strohmarketerie. „Tatsächlich trieb mich die Idee schon eine Weile um, etwas mit dieser traditionellen Handwerkstechnik zu machen“, sagt er. Bei Classicon, dem Hersteller des Tischs, war man sofort begeistert. Die Idee umzusetzen brauchte allerdings Zeit. Rund zwei Jahre dauerte es, ein Verfahren zu entwickeln, mit dem das Stroh unter Glas versiegelt wird. Classicon bietet den Tisch mit Marketerie in drei changierenden Farben an, in Gold, Anthrazit und Braun.
Magische Spiegelungen: Sebastian Herkners Tisch Bell Table von Classicon gibt es auch mit Strohmarketerien, die in der Tischplatte eingelassen sind.Fotos: Classicon, Hersteller
„Mich fasziniert die natürliche Farbigkeit des Materials, in dem sich das Licht fast magisch spiegelt.“
Sebastian Herkner denkt in Sachen Stroh schon weiter: „In der Möbelgeschichte Frankreichs der vergangenen beiden Jahrhunderte findet man beeindruckende Beispiele für Marketerie, beispielsweise Paravents.“ Tatsächlich gäbe es das Handwerk ohne einige der prominentesten Figuren der französischen Möbel- und Einrichtungswelt womöglich gar nicht mehr. So verwendete etwa der Art-déco-Designer Jean-Michel Frank in den Zwanzigerjahren Elemente aus Strohmarketerie für Schatullen, Tische und Paravents. Die Möbel erzielen in Galerien und bei Auktionen heute hohe Preise. Genau wie vergleichbare Stücke der Designer und Innenarchitekten André Groult und Jean Royère, zweier Zeitgenossen Franks, die ebenfalls Marketerien einsetzten. Im Art déco erlebte die Handwerkstechnik ein Revival, das mit Royères Entwürfen bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg reichte. Doch danach geriet die Technik mal wieder in Vergessenheit – wie bereits Ende des 19. Jahrhunderts, als sie schon einmal aus der Mode gekommen war. Die frühesten Möbelstücke mit Dekorationen aus Stroh in Europa datieren aus dem 17. Jahrhundert, sie stammen aus Frankreich, Italien, den Niederlanden und England. Wo die Technik ursprünglich entstand, ist nicht bekannt. Man nimmt an, dass das in großen Mengen verfügbare günstige Material als Ersatz für teure, exotische Furniere aus Holz diente. Eine interessante historische Fußnote: Sowohl in Frankreich wie auch in England fertigten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Gefangene Stücke mit Strohmarketerie und verkauften sie.
Dass Strohmarketerie heute ein weiteres Comeback erleben darf, liegt auch an der Französin Lison de Caunes, einer Enkelin von André Groult. Manche feiern sie gar als Retterin dieses Handwerks. Schon als Kind konnte sie sich in der Pariser Werkstatt ihres Großvaters damit vertraut machen – und kehrte als Erwachsene, nach einer Ausbildung zur Buchbinderin, zurück. Sie erlernte die überkommene Technik und entwickelte sie mit den Werkzeugen aus der Buchbinderei weiter. Zunächst restaurierte Lison de Caunes lediglich Stücke ihres Großvaters. Doch schon seit Längerem entwirft sie unter dem Namen Lison de Caunes Créations auch eigene Möbel und Objekte. Zudem arbeitet sie mit Innenarchitekten und Gestaltern zusammen, darunter sind bekannte Namen wie Peter Marino, Pierre Marie und India Mahdavi, deren Entwürfe sie mit ihrem Werkstattteam umsetzt. Das können Möbel wie Beistelltische oder Leuchten sein, aber auch ganze Innenräume von Restaurants oder Hotels, deren Wände mit Mustern aus unzähligen Halmen überzogen sind.
Ein Hotel in Genf, ein Parfumgeschäft in Paris: Lison de Caunes hat Strohmarketerie wieder populär gemacht.Fotos: gaelleleboulicautpics
Alberte Svendsen erlernte die Handwerkskunst ebenfalls in Paris, im darauf spezialisierten Atelier Maonia. Nach ihrer Ausbildung in Dänemark und einem Aufenthalt in Japan ging sie dorthin, um tiefer einzusteigen in das Möbelhandwerk Frankreichs. „Die Arbeit mit Stroh ist monoton und erfordert hohe Präzision, aber ich finde den Prozess befriedigend“, sagt sie. „Stroh ist einzigartig, schwer ganz zu begreifen und anders als jedes andere Material, mit dem ich bisher gearbeitet habe. Seine glänzende, reflektierende Oberfläche hat eine ‚nicht-dänische‘ Qualität, die es anspruchsvoll und aufregend macht.“ In Deutschland hat Simône Schwarz in der Nähe von Lemgo eine Strohmanufaktur aufgebaut. Sie setzt eigene Entwürfe um, arbeitet aber auch für Kunden wie die Bielefelder Möbelwerkstätten.
In Mexiko-Stadt liegt das Studio von Fernando Laposse. Der Gestalter, Spezialist im Umgang mit natürlichen Materialien wie Luffa, Agave und Avocado, hat Techniken entwickelt, um die Blätter von Maiskolben ähnlich wie Stroh in Marketerien zu verarbeiten. Aus diesen vielfarbigen Totomoxtle-Maisfurnieren fertigt er Kommoden, Tischplatten, Leuchtenschirme und Wandverkleidungen. Erstmals in Kontakt mit dem Marketerie-Handwerk kam er als Mitarbeiter im Studio der Londoner Designerin Bethan Laura Wood, die viel mit Furnieren arbeitet und sie zu teilweise überbordend-bunten Mustern zusammensetzt.
Mais statt Stroh: Designer Fernando Laposse gibt dem alten Handwerk neuen Sinn.Foto: Privat
So dekorativ Fernando Laposses Totomoxtle-Objekte aber auch sein mögen – ihm geht es nicht allein um die ästhetische Wirkung. Das Projekt nahm seinen Anfang vor rund zehn Jahren während einer Künstlerresidenz in der mexikanischen Stadt Oaxaca. Laposse recherchierte zum Maisanbau – Mais ist die wichtigste Nutzpflanze und Teil der nationalen Identität Mexikos – und fand heraus, dass die althergebrachten Formen der indigenen Landwirtschaft auf dem Rückzug sind. Unter anderem, weil die vielfältigen, teilweise uralten Maissorten verdrängt werden von einigen wenigen hybriden Sorten der Agrarindustrie, die großflächig angebaut werden. Und während der Industriemais schlicht gelb ist, haben die Kolben und Blätter der alten Sorten ganz verschiedene Farben, von Rosa über Rot bis zu Lila-Schwarz – eine Vielfalt, widergespiegelt in den Mustern der Totomoxtle-Marketerien.
Designer Fernando Laposse unterstützt mit seinem Handwerk indigene Bauern im Südwesten Mexikos.Fotos: Privat
„Diese Art von Landwirtschaft bringt der Natur viel mehr Respekt entgegen und ist den indigenen Völkern Mexikos eigen.“
Fernando Laposse, Designer
„Die Hoffnung war, dass dieses Material den Landwirten hilft, weiterhin die alten Maissorten anbauen zu können“, erklärt Fernando Laposse die Idee hinter Totomoxtle. Deshalb hat er in den vergangenen Jahren eine eigene Produktion dafür aufgebaut, mit einer Gemeinschaft von indigenen Bauern aus dem Ort Tonahuixtla, in einer abgelegenen Region im Südwesten Mexikos. Sie bauen den Mais für das Material an und ernten die Blätter. Zu den Marketerien weiterverarbeitet werden sie zum einen von einer Gruppe von Frauen aus dem Ort. Einiges lässt Laposse auch in seinem Studio in Mexiko-Stadt produzieren, je nach Muster und Technik. Die Blätter werden per Hand geglättet und in verschiedene Formen gestanzt oder mit dem Lasercutter zurechtgeschnitten. Laposse schätzt, dass immerhin etwa 20 Familien aus Tonahuixtla an der Produktion beteiligt sind.
„Diese Art von Landwirtschaft bringt der Natur viel mehr Respekt entgegen und ist den indigenen Völkern Mexikos eigen“, sagt er. So helfen die Möbelstücke und Wandpaneele aus Totomoxtle nicht nur dabei, die Artenvielfalt von Mexikos wichtigster Kulturpflanze zu erhalten – sie tragen auch zum Lebensunterhalt einer marginalisierten Gemeinschaft bei.