Opfer des eigenen Spiels | NZZ (original) (raw)

Dilma Rousseff und deren Vorgänger Lula da Silva haben nie etwas an den politischen Verhältnissen in Brasilia verändert, sondern sie gepflegt. Nun sind sie daran gescheitert.

Anhänger von Präsidentin Dilma Rousseff in Brasilia während der Amtsenthebung der Präsidentin. (Bild: Bruno Kelly / Reuters)

Anhänger von Präsidentin Dilma Rousseff in Brasilia während der Amtsenthebung der Präsidentin. (Bild: Bruno Kelly / Reuters)

Luiz Inácio Lula da Silva war da. Zusammen mit den Führern sozialer Bewegungen und dem Musiker Chico Buarque sass der Ex-Präsident auf der Tribüne des Senats und lauschte den Worten Rousseffs, die sich am Montag in stundenlanger Rede gegen ihre Absetzung wehrte. Lula da Silva wollte das Bild des Vaters aufrechterhalten, der seine Tochter nicht im Stich lässt. Schliesslich hatte er Rousseff selbst aufgebaut und auf den Thron gehievt, als er das Amt 2009 abgeben musste. Doch vielleicht ging es Lula da Silva auch gar nicht so sehr um die väterlichen Pflichten an diesem denkwürdigen Tag in Brasilia, sondern darum, seiner «Tochter» auf die Finger zu schauen. In kaum einem Satz sprach Rousseff von ihrer Partei, dem Partido dos Trabalhadores (PT), und ihrem Vorgänger Lula da Silva, als ob diese nichts mit ihr und dem Prozess gegen sie zu tun hätten.

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Pfründen für Arm und Reich

In Tat und Wahrheit haben Lula da Silva und der PT sehr viel mit Rousseffs Absetzung zu tun – wahrscheinlich sogar mehr als sie selbst. Rousseff ist vergleichsweise unbescholten, gilt als ehrlich und arbeitsam. Sie hat sich als Beamte hochgearbeitet bis zur Kabinettschefin unter Lula da Silva. Sie hat seine Regierungsarbeit verrichtet, er die Politik. Brasilien erlebte eine Hochblüte unter diesem Zweiergespann. Die Wirtschaft war ein Selbstläufer und erlaubte es der PT-Regierung, die Staatsausgaben hochzufahren und Pfründen zu verteilen – an die Armen, um den Prinzipien gerecht zu werden und den Erfolg an der Urne zu sichern, und an die Reichen und Einflussreichen, um sich den Rückhalt in Brasilia zu sichern.

Wie Letzteres funktioniert, durften die Brasilianer bereits 2005 feststellen, als auskam, dass die Regierung Dutzende von Parlamentariern mit monatlichen Schmiergeldzahlungen bei der Stange hielt. Der Lack des bis dahin moralisch unbescholtenen PT hatte einen ersten tiefen Kratzer abbekommen. Einige der treusten Anhänger spalteten sich ab – aus Scham und weil sie ein revolutionäres Wirtschaftsprogramm erwartet hatten. Doch das Gros der Wähler wollte es noch einmal gut sein lassen. Alle waren zufrieden. Lula und sein PT ritten auf einer Welle der Beliebtheit, die ihresgleichen suchte. Wer Lula nicht liebte, der respektierte ihn, unabhängig von der sozialen Klasse.

Was damals noch niemand wusste, war, dass der PT und seine weitgehend ideologiefreien und opportunistischen Koalitionspartner bereits eine neue Quelle des Zusammenhalts hatten: Petrobras. Der staatlich kontrollierte Erdölkonzern begann durch die Erdölfunde vor der Küste gerade richtig abzuheben. Milliarden wurden in Infrastrukturprojekte gesteckt. Wie überall in Brasilien, wo Staat und Wirtschaft zusammentreffen, wurde überteuert und zugelangt. Statt Barzahlungen gab es prozentuale Beteiligungen an überteuerten Projekten für die alliierten Parteien und deren wichtigste Köpfe. Der Wahlkampf ist teuer in Brasilien, und wer Geld hat, gewinnt. Es war kein neues Modell, diese Art der Korruption hatte schon immer existiert. Neu war nur die Dimension.

Der Staat für die Partei

Als Lula da Silva 2009 nicht mehr zu den Wahlen antreten durfte, hievte er die unbekannte Dilma Rousseff ins Amt. Doch er hinterliess ihr eine schwierige Aufgabe. Die Wirtschaft war ins Stocken geraten, weil Chinas Rohstoffhunger abgenommen hatte, und das zauberhafte Rezept, den Konsum mit mehr Ausgaben und Krediten anzukurbeln, hatte seine Wirkung verloren. Die Angst vor dem wirtschaftlichen Niedergang und dem Verlust erlangter Privilegien richtete sich rasch gegen die Regierung und damit gegen Rousseff und den PT. Trotz allem – und mit tatkräftiger Hilfe von Lula und des verführerischen Propagandaapparates des PT – rettete sich Rousseff 2014 in eine zweite Amtszeit.

Doch dann kam der Skandal um Petrobras ans Licht, was sich als verheerend erweisen sollte. Einerseits führte er dem Land vor Augen, wie tief die moralische Messlatte des PT gesunken war und dass die Partei in dreizehn Jahren an der Macht nichts an den politischen Verhältnissen verändert, sondern sie eifrig gepflegt hatte. Die versprochene linke Revolution hatte es nie gegeben, denn es war nicht der PT, der den Armen etwas Prosperität gebracht hatte, sondern die Wirtschaft. Der Staat hingegen war zu einem Instrument verkommen, um der Partei den Machterhalt zu sichern. Gleichzeitig bedeutete die Aufdeckung des Skandals den Tod der Milchkuh. Es war der Anfang vom Ende der Koalition, die später zerbrechen und sich zur Opposition formieren sollte. Es gab keinen Grund mehr, am PT festzuhalten, denn er stellte keinen Garant mehr dar für Macht und Privilegien. Der PT war verraten und isoliert.

Hinzu kam, dass die führenden Figuren der Partei selbst unter Korruptionsverdacht gerieten – allen voran Lula da Silva. Hatte man ihm 2005 noch seine unter Tränen geäusserten Unschuldsbeteuerungen abgenommen, während seine engsten Minister über die Klinge springen mussten, so war sein Mythos mit der Aufdeckung des Petrobras-Skandals definitiv zerstört.

Die Absetzung als Chance

Der Versuch, Lula da Silva durch eine Nominierung zum Minister vor erstinstanzlicher Strafuntersuchung zu schützen, scheiterte. Inzwischen ist der Ex-Präsident offiziell angeklagt, und die Untersuchungen sind noch lange nicht abgeschlossen. Auch wenn er einer Strafe entgehen kann, so ist seine Popularität Geschichte. Einst der Präsident mit der höchsten jemals erreichten Zustimmung, ist er heute eine Figur, die auf sehr grosse Ablehnung stösst. Gegen wen er in einer fiktiven Stichwahl auch antreten würde, im Moment hätte Lula da Silva kaum eine Chance, nochmals Präsident zu werden.

Hier liegt das grosse Problem des PT. Denn Lula da Silva verkörpert die Partei. Mit ihm steht und fällt der PT, wobei es derzeit vor allem Letzteres ist. Allerdings wäre es töricht, Lula da Silva abzuschreiben. Der Lula da Silva, der am Montag auf der Tribüne des Senats sass, war nämlich nicht die Vaterfigur, die er zu sein vorgab, sondern der Wahlkämpfer, der schlaue Fuchs mit dem Funkeln in den Augen. Er wird es nie zugeben, doch insgeheim dürfte Lula da Silva genau auf diesen Ausgang des Verfahrens gehofft haben.

Das Impeachment gegen seine unschuldige Ziehtochter ist die letzte Chance, die ihm und dem PT bleibt. Wäre Rousseff im Amt geblieben, hätte sie den Karren unter der Flagge des PT vollends gegen die Wand gefahren. Doch nun sind sie Opfer einer Verschwörung, eines Putschs, wie sie schon seit Monaten argumentieren. Darauf lässt sich aufbauen. Die Kampagne für die Präsidentschaftswahlen 2018 hat längst begonnen. Und der «Putsch» gegen Rousseff, gegen den PT, gegen Lula da Silva und alle Errungenschaften, die sie sich auf die Fahne schreiben, wird dabei im Mittelpunkt stehen. Wie fruchtbar die Strategie der Opferrolle sein wird, lässt sich noch nicht ausmalen. Brasilien ist in diesen Monaten noch unberechenbarer geworden, als es ohnehin schon war.

Auch die anstehenden Kommunalwahlen im Oktober dürften kein echter Gradmesser für die weitere politische Entwicklung sein. Die Niederlage des PT bei diesem Urnengang ist unausweichlich. Das einstige Aushängeschild Lula hat sich zur Last entwickelt. Symptomatisch dafür ist, dass sein Name in der Kampagne des zur Wiederwahl antretenden Bürgermeisters von São Paulo, Fernando Haddad, nicht einmal erwähnt wird, obwohl er Lula seine Wahl vor vier Jahren zu verdanken hat.

Haddad, der in den Umfragen weit zurückliegt, tritt unter anderem gegen zwei Kandidatinnen an, die bereits einmal für den PT Bürgermeisterinnen waren, sich nun jedoch nach links und nach rechts anderen Parteien zugewandt haben. Im Moment lassen sich mit dem PT keine Stimmen machen. Ob sich das in naher Zukunft ändern wird, ist fraglich. Denn auch die Basis des PT, die immer sehr breit und gut organisiert war, scheint zu schwächeln. Der Partei gelingt es nicht mehr, spontan die Massen zu mobilisieren, sie hat das Monopol auf die Strasse verloren.

Lula da Silva sagte neulich in einem selten selbstkritischen Moment, dass der PT seine Visionen verloren habe, an Machtgier erkrankt sei und eine Erneuerung brauche. Wieder einmal hatte er recht. Doch er vergass dabei, dass es möglicherweise er selbst ist, der dieser Erneuerung im Wege steht.