Viel Wut unter dem Turban | NZZ (original) (raw)
Dürfen sich Weisse der kulturellen Symbole der Schwarzen bemächtigen? Diese Frage hat in Brasilien eine lange Zeit umgangene Debatte über das Verhältnis der Rassen zueinander losgetreten.
Das der Turban ist ein Symbol der Afrobrasilianerinnen. Ist es korrekt, wenn auch weisse Frauen ihn tragen? (Bild: Silvia Izquierdo / AP)
«Wie können ausgerechnet Sie als weisse Frau einen Turban tragen, also das kulturelle Symbol der Afrobrasilianerinnen?» Diese Frage musste sich kürzlich eine hellhäutige 19-Jährige an einer Bushaltestelle im südbrasilianischen Curitiba anhören. Sie reagierte darauf wütend und riss sich den Turban vom Kopf. «Schau dir meine Glatze an, ich habe Krebs», erwiderte sie der dunkelhäutigen Frau. «Und deshalb setze ich mir den Turban auf, wann es mir gefällt.»
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Diese Sache mit der sogenannten kulturellen Fremdaneignung gehe zu weit, postete sie später in sozialen Netzwerken, «was hat diese Gesellschaft bloss für ein Problem?» Einmal in Fahrt, kreierte sie direkt einen Hashtag mit der Ansage: Alle dürfen Turbane tragen. Man lasse sich da nichts vorschreiben, wurde darunter kommentiert. Manche sprachen auch von Diskriminierung durch die Schwarzen. Diese konterten, die «kulturelle Fremdaneignung» sei Teil des brasilianischen Rassismus.
Tabu des Rassismus
Die heftigen Reaktionen zeigen, dass Gesprächsbedarf besteht. Heikle Themen offen anzusprechen, war nie Brasiliens Stärke, meist wurden Probleme schöngeredet oder unter den Teppich gekehrt. Nun redet man endlich, wenn auch aneinander vorbei. Dabei wirkt die Diskussion ein wenig bemüht. Schliesslich werden Turbane nicht nur von afrikanischen Frauen oder den von ihnen abstammenden dunkelhäutigen Brasilianerinnen getragen, sondern auch in anderen Kulturen auf der ganzen Welt.
Es gehe jedoch um Grundsätzliches, so die dunkelhäutige Journalistin Flávia Oliveira. Stets sei sie wegen ihres krausen Haares, ihrer dunklen Haut und ihres Bekenntnisses zu den afrobrasilianischen Religionen von weissen Frauen lächerlich gemacht worden. Dass ausgerechnet diese Frauen jetzt das Recht einklagten, den Turban zu tragen, empfinde sie als Beleidigung. «Du trägst also meinen Turban, aber wirst du dir auch meine Haut überstreifen? Wirst du dich also auch für meine Belange einsetzen, wenn du schon meine Symbole benutzt?», fragte Oliveira in einem vielbeachteten Artikel. Man könne den Turban nicht seiner kulturellen Bedeutung berauben und lediglich als Modeaccessoire verstehen. Seit den Zeiten der Sklaverei sei das Tragen traditioneller Kleidung für schwarze Frauen ein Symbol des Widerstands gegen die Diskriminierung durch die Weissen, so Oliveira.
Der Hashtag #vaiterbrancadeturbantesim (weisse Frauen werden trotzdem einen Turban tragen) wirke da wie purer Hohn. Für Aussenstehende scheint es verwunderlich, dass sich derartige Diskussionen ausgerechnet an einem Turban entzünden. Es gibt so viele andere Bereiche, wo die Diskriminierung von Menschen mit afrikanischen Wurzeln – immerhin die Hälfte aller Brasilianer – viel offensichtlicher ist. Schwarze sind in der Politik und Wirtschaft erschreckend unterrepräsentiert. Dafür führen sie sämtliche Statistiken zu Armut und Gewalt an. Rund 70 Prozent der jährlich 60 000 ermordeten Brasilianer sind junge Schwarze.
Polizeigewalt gegen Schwarze
Während in Europa darüber diskutiert wird, ob Polizeikontrollen nach ethnischen Merkmalen zulässig sind, sind sie in Brasilien an der Tagesordnung. Junge Schwarze werden viel öfter von der Polizei kontrolliert und verhaftet als ihre weissen Altersgenossen. Sie stellen auch die grosse Mehrheit der Gefängnisinsassen. Junge Schwarze werden zudem auch am häufigsten Opfer von Polizeigewalt. Meist töten dabei unterbezahlte Polizisten dunkler Hautfarbe arbeitslose, in die Kriminalität abgerutschte junge Schwarze. Der brasilianische Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro spricht deshalb von einem «Genozid in homöopathischer Dosierung» an der schwarzen Bevölkerung.
Doch während internationale Menschenrechtsgruppen die Gewalt gegen Schwarze kritisieren, findet in der brasilianischen Gesellschaft keine breite Diskussion statt. Bewegungen wie die amerikanische «Black Lives Matter», die offen gegen die rassistische Polizeigewalt protestieren, gibt es in Brasilien nicht. Denn obwohl die Schwarzen seit je am unteren Ende der Gesellschaft leben, hält sich Brasilien erstaunlicherweise für ein Land ohne Rassismus.
Als eines der letzten Länder weltweit schaffte es die Sklaverei erst 1888 ab. Damals ersetzten Millionen arme Migranten aus Europa und Asien die afrobrasilianische Arbeitskraft. Nach und nach würden die Brasilianer durch die Vermischung der unterschiedlichen «Rassen» zwangsläufig immer weisser, frohlockten damals Journalisten und Wissenschafter. Auch kulturell ging der Blick nach Europa. Während die weisse Oberschicht französische Literatur verschlang, sangen die Afrobrasilianer auf ihren Karnevalszügen italienische Opernarien.
Verbotene afrikanische Tänze
Afrikanische Rhythmen wie Samba waren derweil verboten. Genau wie der Kampftanz Capoeira galten sie als subversiv. Erst unter dem nationalistischen Diktator Getúlio Vargas wurden derartige Kulturäusserungen in den 1930er Jahren salonfähig. Gleichzeitig zeigte man mit dem Finger auf den grossen Bruder USA, wo noch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Rassengesetze in Kraft waren. Brasilien hingegen feierte sich als Rassendemokratie, als kastenfreie Gesellschaft, in der ein jeder seinem Glück nachstreben könne. Die Grenze zwischen Toleranz und Desinteresse war dabei stets schwer auszumachen.
Die offensichtlichen sozialen Unterschiede in der Gesellschaft wurden nie offen auf die Hautfarbe zurückgeführt. Der damals in den USA herrschenden «rassistischen Apartheid» stellten Soziologen Brasiliens «soziale Apartheid» entgegen. Die Verneinung von Rassismus verhinderte jedoch das nötige Verarbeiten des eigenen Schicksals. Während in den USA die jahrzehntelange, schmerzliche Auseinandersetzung mit diesem Phänomen schliesslich ermöglichte, dass ein schwarzer Präsident ins Weisse Haus einzog, gibt es in Brasilien bis heute keinen schwarzen Politiker in herausragender Position. Dem Land steht die grosse Abrechnung mit dem Rassismus also noch bevor. Leichter zu organisierende Minderheiten wie Schwule, Lesben und Feministinnen preschen im Kampf um Gleichberechtigung vor. Da immer mehr Schwarze dank Quoten Zugang zu den Universitäten erhielten, nehme aber auch die Rassismusdebatte deutlich Fahrt auf, glaubt die Journalistin Oliveira. Die sozialen Netzwerke stellen sich als ein immer mächtigeres Werkzeug für diese Debatte heraus.
Die Diskussion um die «Fremdaneignung» der afrobrasilianischen Kultur durch die Weissen erscheint wie ein Testballon der anstehenden Debatten. Afrobrasilianer seien stets durch die weisse Kultur ausgeplündert worden, meint die dunkelhäutige Philosophin Djamila Ribeiro. So habe die weisse Oberschicht die Sambamusik erst dann akzeptiert, als man deren Marktpotenzial entdeckte. «Um Geld zu machen, gibt der Kapitalismus dem Samba einfach ein neues Gesicht, und zwar ein weisses», so Ribeiro. Doch Brasiliens schwarze Community scheint immer weniger bereit, derartiges durchgehen zu lassen. Vielleicht ist es letztlich aber auch viel einfacher, über Kultur zu reden statt über systemimmanente Gewalt.