Ukraine: In Charkiw schiessen Russen auf Russen (original) (raw)

Die zweitgrösste Stadt der Ukraine hat sich innert Tagen in ein Trümmerfeld verwandelt. Dass Putin seine Streitkräfte so gnadenlos einsetzt, erstaunt angesichts der Tatsache, dass es sich bei Charkiw um eine stark russisch geprägte Metropole handelt.

In der Innenstadt von Charkiw sind infolge des russischen Artilleriebeschusses viele Strassen mit Trümmern übersät.

In der Innenstadt von Charkiw sind infolge des russischen Artilleriebeschusses viele Strassen mit Trümmern übersät.

Sergey Kozlov / EPA

Kurz vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine wurde Präsident Putin an einer Pressekonferenz gefragt, ob es denn möglich sei, militärische Gewalt anzuwenden und trotzdem auf der Seite des Guten zu bleiben. Putin antwortete sinngemäss, dass das Gute eben manchmal mit Gewalt erreicht werden müsse. Was das in der Praxis bedeutet, lässt sich seither in der Ukraine beobachten. Im Kampf gegen vermeintliche Neonazis nehmen Russlands Streitkräfte kaum noch Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Einst lebensfrohe Städte haben sich innert Tagen in Trümmerfelder verwandelt.

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Wie ein roter Faden zieht sich diese Unerbittlichkeit durch die Laufbahn Putins. Die tschetschenische Hauptstadt Grosny machte er mit seinen Truppen 1999/2000 dem Erdboden gleich, 2016 liess er einen Bombenhagel auf die von Rebellen kontrollierten Teile der syrischen Metropole Aleppo niedergehen. Nun ist zu befürchten, dass auf dieser Liste bald auch Städte wie Mariupol, Kiew und Charkiw stehen werden.

Russisch ist für die meisten die Muttersprache

Der Beschuss von Charkiw mit Artilleriegranaten und Raketen in dieser Woche wirkt dabei besonders grotesk, denn die ostukrainische Metropole mit anderthalb Millionen Einwohnern ist eine stark russisch geprägte Stadt. Die Beziehungen zu Russland waren bis vor wenigen Jahren sehr eng; die Grenze liegt nur 35 Kilometer entfernt.

Noch 2015 gaben in einer Umfrage 84 Prozent der Einwohner der Provinz Charkiw an, zu Hause vor allem Russisch zu sprechen. Der Anteil der im engeren Sinne «ethnischen Russen» ist geringer, aber immer noch hoch: In der letzten ukrainischen Volkszählung rechnete sich 2001 jeder dritte Einwohner der Stadt zu dieser Nationalität. In diesem Krieg bringt Russland deshalb auch Tod und Leid über Angehörige der eigenen Volksgruppe.

The purely civilian center of #Kharkiv, before and after Putin's 'Denazification'.#PutinAtWar pic.twitter.com/2fSZjyFKT7

— Julian Röpcke🇺🇦 (@JulianRoepcke) March 4, 2022

Charkiws Bürgermeister, Ihor Terechow, richtete sich am Donnerstag bezeichnenderweise in russischer Sprache an die Bevölkerung, als er einen flammenden Aufruf zum Widerstand machte. «Charkow wird sich nicht ergeben, wir werden siegen!», sagte er darin – und scheute sich nicht, den traditionellen russischen Namen der Stadt zu verwenden. Es ist ein Hinweis darauf, dass die Kreml-Propaganda von der Unterdrückung alles Russischsprachigen in der Ukraine masslos übertrieben ist.

Gegenüber dem Sender CNN sprach der müde wirkende Bürgermeister am Freitag von zahlreichen Todesopfern. Er beschuldigte Russland, absichtlich Wohnviertel unter Beschuss zu nehmen, um die Bevölkerung gezielt zu vernichten.

Eine vom amerikanischen Militärexperten Michael Sheldon vorgenommene Auswertung der jüngsten Angriffe bestätigt, dass Russland keine erkennbare Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Zielen macht und damit mutmasslich schwere Kriegsverbrechen begeht. Aufgrund von Munitionsresten schliesst Sheldon auf den Einsatz von Mehrfachraketenwerfern und von international geächteter Streumunition.

Die Absicht scheint darin zu bestehen, die Metropole durch den konstanten Beschuss zu zermürben und eine Kapitulation zu erreichen, nachdem ein Einmarsch in die belagerte Stadt am vergangenen Wochenende gescheitert war.

Auf dem Gelände eines Spitals stehen Einwohnerinnen und Einwohner für Lebensmittel an.

Anna Chernenko / Reuters

Russland greift durchaus auch militärische Objekte an, darunter die traditionsreiche Malyschew-Panzerfabrik ausserhalb des Zentrums. Hier wurden einst sowjetische T-34-Panzer für den Krieg gegen Hitlerdeutschland hergestellt. Nach einer langen Krisenzeit erlebte die Fabrik erst in jüngster Zeit dank der Produktion und Reparatur neuerer Kampfpanzer wieder einen kleinen Aufschwung. Seit der Invasion haben sich auf ihrem Gelände mehrere grosse Explosionen ereignet.

Die meisten Angriffe richten sich jedoch gegen öffentliche Gebäude im Zentrum und Wohnviertel. Der Platz unmittelbar vor dem Sitz der Provinzregierung wurde am Dienstag mutmasslich mit einem Marschflugkörper angegriffen; dabei gingen alle Fenster des Regierungsgebäudes in die Brüche, und es entstanden schwere Schäden.

Der riesige Platz – einer der grössten Europas –, an dem neben der Provinzregierung auch ein Hotel, Hochschulgebäude und weitere Repräsentativbauten stehen, trägt seit einigen Jahren einen symbolträchtigen Namen: Freiheitsplatz (Maidan Swobodi). Einst hatte er für kurze Zeit auch deutsche Namen getragen, nämlich «Platz der Wehrmacht» und später «Platz der Leibstandarte SS».

Dies erinnert daran, dass die Stadt schon früher furchtbare Zeiten und Zerstörungen erlitten hatte. Zwischen 1941 und 1943 befand sie sich unter der Herrschaft Nazideutschlands, was die Vernichtung ihrer jüdischen Bevölkerung und die Verschleppung zahlreicher Einwohner zur Zwangsarbeit nach Deutschland zur Folge hatte.

Ebenfalls am Freiheitsplatz befindet sich die berühmte Karasin-Universität, eine der bedeutendsten Bildungseinrichtungen des Landes. Das imposante Gebäude ihrer Wirtschaftsfakultät ging am Mittwoch in Flammen auf, offenbar durch einen Raketenangriff.

Auch mehrere Schulen wurden Opfer der Kampfhandlungen. Nur noch aus Ruinen besteht die Spezialschule Nr. 134, ein unter anderem auf Deutschunterricht spezialisiertes Institut. Eine nach Charkiw vorgedrungene russische Sondereinheit hatte sich hier am vergangenen Wochenende verschanzt; bei den darauffolgenden Kämpfen mit dem ukrainischen Militär brach ein Grossbrand aus, der das stattliche, noch aus der Stalinzeit stammende Gebäude völlig zerstörte.

Ruins of the 134th specialized school,
Kharkiv,#Ukraine 🇺🇦
Geolocation:https://t.co/0i0mmKfC1L pic.twitter.com/OjeFmiL5qn

— Aleph א #IStandWithUkraine 🇺🇦 (@no_itsmyturn) March 3, 2022

Videobilder zeigen ferner schwere Schäden an mindestens zwei weiteren Schulen in anderen Teilen Charkiws. Sie dürften die Folge von russischem Artilleriebeschuss sein.

School in the city of Kharkiv in Ukraine. Putin's troops are bombing the civilian population of Ukraine. Russia is a country of terrorism.#StopRussia #RussiaInvadesUkraine #StopPutin#StopPutinNOW pic.twitter.com/KPXYWlKSDv

— CN in Ukraine (@CNUkraine) March 3, 2022

Andere Aufnahmen machen deutlich, dass insbesondere die Innenstadt in den vergangenen Tagen enorme Zerstörungen erlitten hat. Am Verfassungsplatz und um den Sitz des Bürgermeisters sind die Strassen mit Trümmern übersät. In diesem früher eleganten Einkaufsviertel ist allem Anschein nach kein einziges Gebäude mehr unversehrt.

Downtown Kharkiv. We’re getting a good indication of what the siege of Kyiv will look like. That’s probably the point. https://t.co/5Wht23P7S7 pic.twitter.com/KKrVfp4T2H

— Rob Lee (@RALee85) March 3, 2022

Da der Beschuss der Stadt mit Artillerie und Raketen auch am Freitag weiterging, sucht die Bevölkerung Schutz in Kellern. Die Strassen sind laut Berichten aus der Stadt fast leer; abends und in der Nacht herrschen ohnehin eine Ausgangssperre und ein Verdunkelungsgebot. Laut dem Bürgermeister Terechow treffen zwar Hilfsgüter ein, aber die humanitäre Lage der Bevölkerung scheint äusserst prekär. Auch Spitäler sind gezwungen, einen Teil ihrer Patienten in Schutzräume zu verlegen.

This photo was taken in a makeshift perinatal centre in a basement in Kharkiv, #Ukraine.

Doctors and nurses have been here for five days, with pregnant women, mothers and newborns.

For many of those seeking safety from the escalating conflict, life has gone underground. pic.twitter.com/yGxLmx3wGy

— Afshan Khan (@AfshanKhan_) March 2, 2022

Moskau verspielt die letzten Sympathien

Würde Charkiw der Russischen Föderation einverleibt, so wäre es nach Moskau und St. Petersburg die drittgrösste Stadt im europäischen Teil Russlands. Das unterstreicht ihre im Westen oft unterschätzte Bedeutung. Aber wie Putin mit seiner Gewaltpolitik die Bevölkerung für einen Anschluss gewinnen will, bleibt sein Geheimnis. Schon bei den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen im Jahr 2014 hatte sich klar gezeigt, dass trotz der kulturellen Nähe zu Russland nur eine Minderheit eine politische Anlehnung an das grosse Nachbarland wünscht. Moskau war es damals nicht gelungen, wie im Donbass einem prorussischen Aufstand zum Sieg zu verhelfen.

Der jetzt von Putin praktisch für vogelfrei erklärte ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hatte bei seiner Wahl im April 2019 in der Provinz Charkiw die Unterstützung von 87 Prozent der Stimmenden erhalten. Im ersten Durchgang war er auf gut 36 Prozent gekommen – und erzielte damit mehr Stimmen als alle russlandfreundlichen Bewerber im Kandidatenfeld zusammen.

Mit dem menschenverachtenden Vorgehen der russischen Streitkräfte droht Moskau nun auch die letzten Sympathien zu verspielen. Damit ist schwer vorstellbar, wie der Kreml den Rückhalt dieser lange mit Russland verbundenen Metropole gewinnen will, selbst wenn es ihm gelingen sollte, in den kommenden Wochen den Belagerungsring zu schliessen und Charkiw einzunehmen.