"Red Dead Redemption": Rockstars retten den Western (original) (raw)

Das Blut rauscht in den Ohren, der eigene Herzschlag dröhnt, die Zeit wird zäh - und dann knallt es, zwei, drei, viermal hintereinander, Bang Bang Bang. Mit einem langgezogenen Zischen kommt die Realität zurück, und zwei, drei, vier Opfer fallen in den Staub. Wenn John Marston, geläuterter Outlaw und einsamer Held, zur Waffe greift, dann wird klar, dass dies seine Berufung ist und bleibt: das Töten. In einem Gespräch mit seinem Sohn Jack schwärmt Marston, in einem unbeholfenen Versuch des Vater-Sohn-Bondings, einmal von der kommenden Wachtelsaison. Der pubertierende Junge erwidert: "Gibt es irgendwas, was du nicht gern erschießt, Papa?"

Revolverhelden sind prototypisch-perfekte Videospielfiguren: Sie müssen schießen, töten, weiterziehen. Tun sie es nicht, geht die Geschichte nicht weiter. Umso erstaunlicher ist es, dass der Western als Genre es bislang nicht so recht geschafft hat in der Welt der Computer- und Konsolenspiele. Eine ganze Reihe von Versuchen hat es gegeben, "Gun", "Call of Juarez", "Read Dead Revolver", aber so richtig abgehoben hat der gespielte Western nie. Viele in der Branche dachten, die Zeiten dafür seien einfach vorbei. Schließlich gelten Wildwestfilme auch im Kino inzwischen als Kassengift.

Nun aber hat Rockstar Games mit "Red Dead Redemption" ein Meisterwerk vorgelegt, das zeigt, dass der Westen sich nicht nur gut macht in Videospielen. Sondern dass das vor sich hindämmernde Genre nur darauf gewartet hat, in diesem perfekt geeigneten Medium zu neuer Größe aufzuerstehen.

Ein Genre-Computerspiel hat für die Macher immense Vorteile, und das gilt für den Western als filmisches Urgenre ganz besonders. Die Entwickler können sich auf den ganzen Zeichen- und Zitatenschatz stützen, den Hollywood in über hundert Jahren Filmgeschichte angehäuft hat. "Red Dead Redemption" zitiert nicht einen Western oder zwei, sondern alle: Das Gemetzel mit dem Gatling-Maschinengewehr aus Sam Peckinpahs "The Wild Bunch", den explodierenden Pferdewagen aus "Ein Fressen für die Geier" von Don Siegel, die durchgeschossenen Henkersseile aus "Zwei glorreiche Halunken" ("The Good, the Bad and the Ugly") von Sergio Leone, das legendäre Ende von George Hills "Butch Cassidy and the Sundance Kid". Und so weiter.

John Marston ist alle Westernhelden, die es je gab, er durchstreift alle Landschaften, die jemals Westernkulisse waren, von roten Monument-Valley-Formationen über die weite Prärie bis hin zu verschneiten Bergwäldern. Wie schon beim Vorgänger "Grand Theft Auto IV" - "Red Dead Redemption" basiert auf der gleichen Technologie und bedient sich der gleichen Spielmechanik - ist hier die Spielwelt der eigentliche Star. So schön hat der digitale Westen noch nie ausgesehen: Über der weiten, vielgestaltigen Landschaft spielt sich ein immerwährendes Wolkenballett ab, es gibt tosende Gewitter und lyrische Sonnenaufgänge, gleißendes Wüstenlicht und sanftes Abendrot.

Ein trällernder Schwede in Mexiko

Wirklich magisch aber wird diese Landschaft durch einen verblüffenden Soundtrack, produziert von David Holmes ("Ocean's Eleven", "Out of Sight"). Eine einsame Gitarre tupft einzelne Noten in die Luft, so staubtrocken und spröde wie die Steppe selbst, mal klagt eine Miles-Davis-Trompete, mal pfeift ein unsichtbarer Cowboy eine traurige Melodie. Und manchmal klingt es, als säße Ennio Morricones ganzes Orchester in der Konsole. Wer die ersten 15, 20 Prozent der Geschichte hinter sich hat, darf den Fluss ins Spielwelt-Mexiko überqueren und wird dort überraschend von der Gitarre und der flüsternden Folkstimme des schwedischen Songwriters Jose Gonzalez begrüßt, mit einem melancholischen Lied über Menschen fern der Heimat. In einer Welt mit so viel spielerischer Freiheit gezielt solche magischen Momente zu inszenieren, ist eine Kunst, die bislang niemand so gut beherrscht wie Rockstar Games.

Auf seinem Weg durch eine Geschichte, die von alten, wahnsinnig gewordenen Kumpanen handelt und von der neuen Macht der Zentralregierung in Washington, von verblassenden Outlaws, egomanischen Revolutionären und den skrupellosen Agenten der neuen Zeit, darf Marston noch einmal alles tun, was Hollywoods Westen ausmacht: Nicht nur schießen, sondern auch Rinder treiben, Pferde zureiten, pokern, würfeln, trinken. Es wird kein Klischee ausgelassen, aber ein Witz ist diese Westernwelt dennoch nicht. Nur in der Zeitung und im Kino findet sich der sardonische Humor der Rockstar-Chefs Sam und Dan Houser wieder, der die "Grand Theft Auto"-Spiele ausmacht: Artikel, Reklame, Stummfilme und mitgehörte Gespräche der virtuellen Westerner erzählen vom selbstverständlichen, beiläufigen Rassismus, Sexismus und Antisemitismus dieser Zeit, von der Arroganz der Sieger über die Ureinwohner und vom Beginn der Umweltzerstörung.

Kautabak für die ruhige Hand beim Schießen

Marston selbst kann im Spiel zu demjenigen werden, der den letzten Büffel der Great Plains erschießt, mit schlechtem Gewissen. Büffel bringen Geld, aber dass es nicht mehr viele gibt, ist auch im Spiel kein Geheimnis. Auch das ist ein Kunstgriff, den nur ein Videospiel ermöglicht: Moralische Dilemmata - und davon gibt es viele in "Red Dead Redemption" - nicht vorzuführen, sondern erfahrbar zu machen.

Die Fauna der Spielwelt reicht von der Klapperschlange über Hase und Gürteltier bis hin zu Wölfen und Grizzlys - und alle sind potentielle Beutetiere. Von den knapp 30 Stunden, die ich in die Spielwelt investiert habe, habe ich ein geschätztes Viertel auf der Pirsch verbracht. Die Jagd ist wie so vieles hier so perfekt umgesetzt, dass sie als eigenständiges Spiel durchgehen könnte. Holt Marston Adler oder Falken vom Himmel, schießt er sich einen schönen Hirsch, kann er die Beute zu Geld machen und sich dafür neue Ausrüstung kaufen: Waffen, Kautabak für die ruhige Hand beim Schießen oder Äpfel fürs eigene Pferd. Sogar Immobilien lassen sich erwerben.

Alles wird gut - nach dem Ende

Im Kern aber handelt das Spiel vom Ende des alten Westens. Die Geschichte spielt 1908, in der Eröffnungssequenz wird ein Ford Modell T vom Dampfboot abgeladen, Symbol einer neuen Zeit. Outlaws und Revolverhelden sind hier ebenso im Aussterben begriffen wie die Büffel auf den Great Plains. Der Tod begegnet Marston überall, auch in den zahlreichen kleinen Nebengeschichten, die das Gesamtbild erst komplett machen: Da ist der Mann, für den unser Held Blumen sammeln soll, für den Hochzeitstag - und dessen geliebte und umsorgte Gemahlin sich als mumifizierte Leiche im Schaukelstuhl entpuppt. In den Hügeln um die Stadt Armadillo gibt es Kannibalen, und wenn John nicht schnell genug reagiert, wird so mancher unschuldige Passant von Coyoten zerrissen, von Wegelagerern erschossen oder aufgeknüpft. "Regeln mögen langweilig sein", sagt der böse Polizist Ross einmal, "aber die Alternative ist die Hölle".

Zum Wesen einer solchen Geschichte gehört es, dass der gebrochene Held selbst sie nicht überlebt - zum Wesen eines Open-World-Spieles aber gehört, dass dem Spieler nach Abschluss der Geschichte die Möglichkeit gegeben wird, weiter die mit so viel Mühe geschaffene Welt zu durchstreifen, Unerledigtes abzuschließen. Selbst dieses Problem wird in "Red Dead Redemption" auf ziemlich elegante Weise gelöst.

Gegen Ende bricht das Spiel mit der erzählerischen Konvention des Films: Wo die Geschichte eigentlich am Ende sein sollte, geht sie noch mal weiter, beschert dem Spieler überraschend zarte, fast zärtliche Momente. Da wird das, was gut, schön, und richtig war am weiten Westen noch einmal vorgeführt - auch wenn die Schrift an der Wand längst nicht mehr zu übersehen ist.


"Red Dead Redemption" von Rockstar Games, für Xbox 360 und Playstation 3, Ca. 55,- Euro, keine Jugendfreigabe