Sturm-Taxi oder "Fleischangriff" – das steckt hinter der Taktik, mit der die Russen ukrainische Dörfer stürmen (original) (raw)

Russland marschiert langsam, aber stetig im Donbass voran – unter Verlusten und mithilfe von improvisierten Vehikeln. Oft ist von "Fleischangriffen" die Rede. Warum haben die Invasoren trotzdem Erfolg?

Bei der Schlacht um Bachmut war noch von russischen "Fleisch-Wellen" die Rede. Der Begriff spielt auf den Beginn des Zweiten Weltkriegs an, als die Sowjets teilweise immer noch mit einer Taktik angriffen, die schon im Ersten Weltkrieg überholt war: dem geschlossenen Sturmangriff der Infanterie. In dichten Reihen, drei hintereinander, teilweise untergehakt, sollten die Rotarmisten die deutschen Gräben und den Sieg im Nahkampf mit dem Bajonett erreichen. Das Ganze ohne nennenswerte Artillerie-Unterstützung und ohne Hilfe von gepanzerten Fahrzeugen. Die Deutschen waren schockiert vom Mut der Sowjets – deren Angriffe freilich ohne jeden Erfolg blieben. So wie auch die verzweifelten Banzai-Angriffe der Japaner im Pazifik.

Kurz und knapp: Solche Wellenangriffe gibt es in der Ukraine nicht.

Angriffe unter Drohnenbeobachtung

Alle Gefechte am Boden müssen in der Ukraine mit einem Problem zurechtkommen, das es in früheren Kriegen nicht gab: der Allgegenwart von Drohnen. Von Modellen, die das Frontgebiet überwachen, und solchen, die den Gegner attackieren, sobald er erkannt wird. Die ukrainischen Streitkräfte waren damit zu Beginn ihrer Sommeroffensive konfrontiert und erlitten bereits in der Annäherung schwere Verluste.

Vom Angriff einer gepanzerten Kolonne wichen sie in der Folge auf ein anderes Konzept aus: Kleine Gruppen von Infanteristen versuchten sich entlang der Baumreihen unbemerkt vorzuarbeiten. Diese Taktik funktioniert jedoch nur für begrenzte Entfernungen, die Soldaten können nicht kilometerweit mit ihrer Ausrüstung voranschleichen. Das erschöpft die Männer, die Chance, entdeckt zu werden, wächst. Ein halbes Jahr später umso mehr, da beide Seiten inzwischen Drohnen mit Nachtsichtfähigkeiten benutzen.

23. Juni 2022,21:10

T-72 beim Feuern. 

So schnell wie nur möglich

Die Bewegung im Gelände ohne den Schutz von Gräben und Gebäuden ist tödlich. Die russische Antwort auf das Dilemma ist das Sturmtruppen-Taxi. Das was? Die Hauptlast der Kämpfe schultert die Infanterie allein, doch die Russen versuchen, ihre Soldaten möglichst schnell aus der Bereitstellung in die Angriffszone zu bringen. Dafür benutzen sie alles, was im Gelände und auf Feldwegen schnell vorankommt. Meist Kampfpanzer und gepanzerte Mannschaftstransporter, bisweilen aber auch Motorräder oder Buggys.

Im Westen werden gerne die gescheiterten Angriffe gezeigt oder kuriose Umbauten von Panzern – wie dem Frankenstein-Tank. Ein T-72, auf den eine Art Helmüberbau geschweißt wurde und der sich wie eine Schildkröte fortbewegt. Dabei sollte aller Spott nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Russen wissen, was sie tun und mit ihrer Strategie Erfolg haben. Beim initialen Angriff auf Tschassiw Jar und ein paar Tage später in Krasnohorivka war das Modell der russischen Sturmangriffe besonders gut zu studieren.

Der Screenshot zeigt einen T-72 mit Schildkrötenpanzer

Der Screenshot zeigt einen T-72 mit Schildkrötenpanzer

© Telegram

Panzer als Drohnen-Lockvogel

Die Russen nähern sich mit jeweils sechs Fahrzeugen. Die Kolonne führt ein Kampfpanzer an, der Rest besteht aus gepanzerten Truppentransportern und Schützenpanzern. Die Gruppe bewegt sich mit der höchstmöglichen Geschwindigkeit entlang eines Weges, den andere Russen schon befahren haben. So soll die Minengefahr umgangen werden – und dabei entstehen auch die Bilder von Panzern, die an den Wracks aus der Woche vorbeirasen.

Die Gruppe benötigt nur wenige Minuten, um die Distanz zum Angriffsziel zu überbrücken. Wenn es gut läuft, halten die Fahrer so einen Abstand, dass eine etwaige Artilleriegranate jeweils nur ein Fahrzeug beschädigen würde. Nach der Hälfte der Strecke setzt meist die ukrainische Abwehr ein. Wo es möglich ist, nutzen die Russen den Sichtschutz von Baumreihen oder Gebäuden, um nicht von Panzerabwehrwaffen unter Feuer genommen werden können. Es bleiben Artillerie und Drohnen. Der Führungspanzer – inzwischen meist mit Schutzdächern und Käfigen – hat vor allem eine Aufgabe: Er soll die Drohnen auf sich ziehen beziehungsweise mit Störsendern behindern.

Verluste sind einkalkuliert

Und auch wenn der "Lockvogel" irgendwann getroffen wird, geht das Konzept auf. Die Schützenpanzer nähern sich dem Ziel, decken die Position mit Niederhaltungsfeuer ein, setzen die Infanterie ab und rasen dann zurück. Auf Hin- und Rückweg gehen meist Fahrzeuge verloren, manche werden zerstört, andere nur beschädigt. Doch der Ausfall von zwei bis drei Vehikeln aus einer Kolonne von deren sechs ist einkalkuliert. Für den Preis konnten sich die Russen in Tschassiw Jar und Krasnohorivka festsetzen. Welche Art von Fahrzeugen für den Transport benutzt werden, scheint weitgehend egal – auch ein uralter T-55 würde es tun, wenn er mit Drohnenschutz-Käfigen und reaktiver Panzerung versehen wird.

08. April 2024,06:25

Russischer Pnazer im besezten Donetzk.

Der Preis der Verluste ist derweil hoch. Denn mit so einem Angriff wird nur ein Teilerfolg errungen und keine Schlacht gewonnen. Das heißt, es gibt weitere Angriffe und Transporte und also weitere Verluste. Erfolgreicher und schonender als die ukrainischen Angriffe in der Sommeroffensive, als Kiews Truppen Robotyne, Werbowe und Klischtschijiwka eroberten, ist der Fleischangriff nichtsdestotrotz.

Massive Fehler führen zu "Fleischangriffen"

Ein ukrainischer Offizier, der ungenannt bleiben wollte, sagte zu Politico: "Die Russen lernen immer. Sie geben uns keine zweite Chance. Glauben Sie nicht den Hype darüber, dass die Russen Truppen einfach in den Fleischwolf werfen, um sie abzuschlachten. Das tun sie natürlich auch – so maximieren sie die Wirkung ihrer Überzahl. Aber sie lernen auch und verfeinern.“

Wenn russische Angriffe scheitern, sind oft Fehler in der Aufklärung der Grund; etwa, wenn die Gruppe in ein zuvor nicht entdecktes Minenfeld gerät. Noch häufiger werden sie von kleinen Drohnen abgewehrt. In Zonen, in denen Kiew das Übergewicht bei Kampfdrohnen besitzt, scheitern diese Angriffe regelmäßig. Und es spricht nicht für das russische Militär, wenn es immer neue Angriffe ansetzt, ohne dass die Drohnengefahr beseitigt wurde. Im Raum von Kreminna liegen an einer Straße mehr als 30 russische Wracks, in der gesamten Zone sind es über 100. Hier dominieren Kiews Drohnen den Himmel – und machen die russischen Vorstöße sinnlos, ja geradezu selbstmörderisch.

Im Westen wird meist übersehen oder nicht korrespondiert, dass den "Fleisch-Angriffen" eine "Fleisch-Verteidigung" gegenübersteht. Die russischen Attacken, ob am Boden erfolgreich oder nicht, fallen unter die Kategorie "bewaffnete Aufklärung". Die Russen überwachen den Raum und versuchen die Positionen der ukrainischen Verteidiger zu entdecken – Gräben, Unterstände, Standorte von Artillerie. Sobald die Ukrainer versuchen, den Angriff zurückzuschlagen, sind sie enttarnt und können von der russischen Artillerie beschossen oder von Gleitbomben zerstört werden. Das ist auch der Grund, warum Kiew die vorderen Positionen meist mit Truppen der zweiten oder dritten Reihe besetzt. Ihr Verlust ist einkalkuliert.

04. April 2024,18:59

Montage von Raketen bei einer Übung der PLA

Die schweren Fernwaffen entscheiden

Im Westen kommt es zu einer verzerrten Wahrnehmung, weil liegengebliebene und zerstörte russische Panzer allzu akribisch gezählt werden, die Verluste der Verteidiger aber "unsichtbar" und ungezählt bleiben. Derzeit setzten vor allem die russischen Gleitbomben Kiews Soldaten an der Front zu. Sie machen auch den Hauptunterschied zu Kiews Sommeroffensive aus, denn die Ukraine hatte solche Waffen nicht. Selbst wenn die ukrainischen Verteidiger einen Angriff abwehren, führen diese Waffen dazu, dass sie Verluste erleiden und ihre Befestigungen vernichtet werden. Können die russischen Sturmtruppen in der Siedlung Fuß fassen, sieht die Lage noch schlimmer aus: Sie beobachten die Ukrainer aus der Nähe. Sobald sie diese regen, fordern die Russen Fernfeuer an.

Die Last der Kämpfe trägt also die Infanterie, schwere Artillerie und Bomben entscheiden sie. Zumal die ukrainische Luftabwehr an einigen Frontabschnitten kaum noch eingreifen kann. Direkt über Tschassiw Jar kurven inzwischen russische Kampfbomber, vielfach unbehelligt.

Drohnen bremsen die Russen

Um die Welle der russischen Armee zu stoppen bräuchte Kiew Luftabwehrsysteme, Artillerie, Munition, dazu große Mengen kleiner Drohnen. Ob, wie und wann der Westen diesen Bedürfnissen nachkommt, ist unklar. Die Produktion von Beobachtungs- und FPV-Drohnen ließe sich schnell steigern in der Ukraine, besser noch auf NATO-Gebiet. Ein NATO-Beamter sagte zu Foreign Policy, dass ukrainische FPV-Drohnen für zwei Drittel der jüngsten russischen Panzerverluste verantwortlich seien. Nein, entscheiden werden sie den Krieg nicht. Aber Putin kann nur dann vorrücken, wenn der Himmel nicht von Kiews Mini-Fliegern beherrscht wird.