Mai Thi Nguyen-Kim: "Die Vermittlung von Wissenschaft ist genauso wichtig wie die Forschung selbst" (original) (raw)

Statt im Labor zu forschen, klärt Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim über Wissenschaft auf. Warum sie das macht, wie sie die Pandemie erlebt hat, wie sie mit Hass im Netz umgeht und was sie für die neue Staffel "MaiThinkX" plant, hat sie im Interview mit dem stern verraten.

Sie kommen aus der Forschung. Woher kam der Antrieb, naturwissenschaftliche Themen für Laien verständlich aufbereiten zu wollen?

Dr. Mai Thi Nguyen-Kim: Ich habe in einem biomedizinischen Bereich geforscht – in der tiefsten Grundlagenforschung. Mein Schwerpunkt waren "Drug delivery Systems", also auf welche Weise Arzneimittel im Körper effektiv an ihren Zielort gebracht werden können. Es war immer mein Antrieb, dass ich an etwas arbeite, was den Menschen nützlich sein könnte und vielleicht auch in der Medizin angewendet werden kann. Mir wurde aber klar, dass die Vermittlung von Wissenschaft und wissenschaftlichen Prozessen genauso wichtig ist wie die Forschung selbst.

Warum ist es so wichtig?

Das beste Beispiel ist der Corona-Impfstoff. All die Arbeit im Labor bringt nur etwas, wenn die Menschen das auch annehmen, akzeptieren und verstehen. Der Impfstoff wirkt nur, wenn ihn sich viele Menschen spritzen lassen. Wenn sie es wegen eines fehlenden Verständnisses oder durch Desinformationen nicht machen, dann kann die Anwendung aus dem Labor den Menschen gar nicht helfen. Das ist natürlich nicht der einzige Fall – es gibt noch unzählige Beispiele.

02. August 2022,11:16

Lisa-Maria Kellermayr im April 2021 vor ihrer Praxis in Österreich

Sie gelten auch als cooler Nerd. Der Grad zwischen dem alten Bild der seriösen Wissenschaft und der Präsentation auf modernen Medien kann schmal sein. Hatten Sie Vorbilder?

Ich habe mit einem Hobby-Youtube-Kanal neben meiner Doktorarbeit begonnen. Zu dieser Zeit habe ich in den USA, in Boston gelebt, um dort zu forschen. Im englischsprachigen Raum gibt es viel mehr Science-Content. Die USA sind im Medienbereich immer einen Schritt weiter als Deutschland. In Sachen Image und Klischee wurde da auch vieles schon durchbrochen. Es war eine Art Inspiration. Aber: Ich bin einfach ich selbst. Die Leute spüren, dass ich sehr auf Wissenschaft stehe und verstehe, was ich erzähle. Und wir Wissenschaftler:innen sind nicht so wie in der Serie "The Big Bang Theory".

Während der Corona-Pandemie sind Sie für viele Menschen zur Corona-Erklärerin geworden. Was hat sich dadurch für Sie geändert?

Das Ausmaß an Aufmerksamkeit war einerseits toll, weil ich meinen Job nur mache, um möglichst viele Menschen über Wissenschaft aufzuklären. Andererseits war es auch überwältigend – damit meine ich auch positives Feedback.

Was ich zudem stark wahrgenommen habe, war die immer größere Vermischung zwischen Politik und Wissenschaft. Es gab sehr hitzige Diskussionen. Ich war es eher gewöhnt, dass Wissenschaft zwar manchmal kompliziert ist, aber ein sehr unaufgeregtes Feld. Man konnte sich in Details und Komplexitäten verlieren. Wenn man aber Spotlight steht, ist es schwieriger und manchmal fehlt die Zeit, um sich sehr intensiv mit einem Thema zu beschäftigen. Gleichzeitig hat es meine Arbeit auch sehr spannend gemacht.

Sie sind auf Social Media sehr aktiv – allein auf Instagram folgen Ihnen über 600.000 Menschen. Ist es aus Ihrer Sicht für die wissenschaftliche Debatte zuträglich, solche Kanäle zu nutzen?

Ich finde es wichtig, Social Media zu nutzen. Alle Medienschaffenden stecken in einem Kampf um Aufmerksamkeit. Ich möchte natürlich, dass möglichst viele Menschen meine Inhalte sehen können – und dafür sind soziale Medien wichtig. Am liebsten würde ich Wissenschaft und wissenschaftliche Aufklärung wie eine Seuche verbreiten. Und ob ich wissenschaftliche Inhalte auf Instagram, in einem Buch oder im Fernsehen erkläre, die Fakten stimmen ja. Auch auf Social Media kann niemand den Inhalt des Posts ändern.

Wer in sozialen Medien über Wissenschaft aufklärt, kann auch zum Ziel von Hass werden. Erst kürzlich wurde durch den Suizid der Ärztin Lisa Maria Kellermayr viel über den Hass im Netz diskutiert. Einige Wissenschaftler:innen haben sich auch aus sozialen Netzwerken zurückgezogen. Wie schauen Sie auf den Hass im Netz?

Ich finde es sehr alarmierend und es macht mir große Sorgen.

Wie gehen Sie selbst mit dem Hass um?

Ich habe ein sehr gutes Team und sehr viel Schutz durch den Sender und den Verlag. Ich habe sozusagen eine richtige Firewall. Ich kann in aller Ruhe meine Arbeit machen und den Hass ausblenden.

So ein Team hat nicht jeder oder jede…

Ja, den Luxus einer solchen Infrastruktur haben die meisten Menschen nicht. Ich finde es sehr traurig, aber auch nachvollziehbar, dass sich Wissenschaftler:innen aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Bei Twitter gibt es aber auch jene, die sich überlegt haben, ob sie sich zurückziehen wollen, sich allerdings dagegen entschieden haben. Sie möchten weiter aufklären. Das Stichwort Zivilcourage ist in diesem Zusammenhang gefallen. Ich habe sehr viel Respekt vor allen, die mit Wissenschaftsvermittlung in der Öffentlichkeit stehen. Es sollte aber gar nichts mit Zivilcourage zu tun zu haben, das ist ja der Fehler im System.

Was müsste sich ändern?

Wir brauchen viel mehr Schutz. Das ist keine gelebte Meinungsfreiheit, wenn man über Impfstoffe aufklären kann, wenn man möchte. Aber die Wissenschaftler:innen, die es machen, bedroht werden. Das geht nicht. Dem Hass dürfte nicht freier Lauf gelassen werden. Im Moment führt dies dazu, dass sich die moderaten, die vernünftigen Stimmen zurückziehen – das ist ein großes Problem für die Demokratie.

Gerade im Zuge der Krise sind viele Verschwörungserzählungen aufgekommen. Waren Sie schon mal an dem Punkt, dass Sie an der Menschheit verzweifelt sind?

Verschwörungserzählungen sind mir nicht neu. Sie haben interessanterweise wenig mit Intelligenz zu tun, sondern viel mehr mit Emotionen. Ich würde niemals erwarten, dass meine Videos oder Inhalte jemanden, der tief in Verschwörungserzählungen steckt, erreichen können. Mit Fakten kommt man nicht mehr weit. Aber: Niemand wurde als Verschwörungsideolog:in geboren. Es hat eine Radikalisierung stattgefunden. Jeden Tag denke ich, dass vielleicht jemand durch Wissenschaftsinformationen an einem Punkt eingefangen wird, wo er oder sie noch für Fakten und Argumente zugänglich ist.

Gab es in der Pandemie etwas, mit dem Sie nicht gerechnet hätten?

Ich werde nie verstehen, wie man sich weigern kann eine Maske anzuziehen, um sich und andere zu schützen. Vor allem am Anfang, als es weder Impfstoff noch Tests gab. Ich erinnere mich auch noch an den Moment, als klar wurde, dass eher ältere Menschen von schweren Verläufen betroffen sind. Man hat fast schon ein Aufatmen oder einen Seufzer der Erleichterung gehört, der sich durch das Land zog. Das war für mich mit meinen vietnamesischen Wurzeln ein echter Kulturschock – in Asien hat man vor Älteren genauso viel Respekt wie vor Jüngeren, wenn nicht sogar noch ein bisschen mehr.

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Was ist Ihrer Meinung nach heute die größte Herausforderung für den Wissenschaftsjournalismus?

Ganz klassisch stehen Wissenschaftsjournalist:innen vor dem Problem, ein hochkomplexes wissenschaftliches Thema zum Beispiel in einem Sendeformat von 30 Minuten richtig zu erklären.

Die ganz neue Herausforderung, die ich wahrnehme, ist, Menschen dazu zu bringen, zu differenzieren. Wissenschaft ist weder dogmatisch und sagt, dass es so und nur so ist. Sie ist aber auch kein philosophischer Take wie "Wir wissen, dass wir nichts wissen", also jede beliebige Erkenntnis morgen wieder falsch sein könnte.

Wissenschaft ist keins dieser Extreme. Sie spielt sich auf dem Spektrum dazwischen ab: Es gibt gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse wie der Klimawandel ist menschengemacht, aber es gibt auch viele Bereiche, wo es noch viele offene Fragezeichen gibt. Dort stößt die Wissenschaft an ihre Grenzen und findet nur einen kleinsten gemeinsamen Nenner. Wissenschaft kann hier kein richtig oder falsch vorgeben, es ist dann Aufgabe der Gesellschaft, die Erkenntnisse moralisch oder politisch zu bewerten. Diese Bereitschaft vermisse ich.

Staffel 3 von "MaiThink X" ab 18. September bei ZDFneo

1: Homöopathie wirkt doch (Ausstrahlung: 18.9.2022)

2: Atomkraft ohne Plan! (Ausstrahlung: 25.9.2022)

3: Die Tricks der Kosmetikindustrie (Ausstrahlung: 09.10.2022)

4: Kryptowährung Bitcoin – jetzt erst recht? (Ausstrahlung: 16.10.2022)

5: Tierversuche: Welches Leben retten wir? (Ausstrahlung: 23.10.2022)

6: Kopfball – Hirnschäden durch (Kinder-)Fußball (Ausstrahlung: 30.10.2022)

Weitere Infos hier.

Bei der neuen Staffel "MaiThink X" ist die Themenpalette sehr breit. Welche Themen sind Ihnen wichtig und warum?

Wir achten immer darauf, ein breites Potpourri zu haben, um zu zeigen, dass Wissenschaft in allen möglichen alltäglichen Gebieten zu finden ist. Wissenschaft ist gesellschaftlich und politisch relevant. Mein Kern sind immer die wissenschaftlichen Methoden – also zu vermitteln, wie Wissenschaft funktioniert. Auch Laien sollen verstehen, wann es sich um gute Wissenschaft handelt, welchen Studien sie vertrauen können und welchen nicht. Verbraucher:innen sollen zum Beispiel selbst erkennen können, ob eine Werbebotschaft auf Kosmetika wie "Studie zeigt, dass diese Creme Falten um 24 Prozent verringert" seriös ist oder eben nur reine Kosmetik.