Ein Film schockt die Berlinale (original) (raw)

Das Publikum buhte, Kritiker verließen den Saal: Die Premiere von "Jud Süß - Film ohne Gewissen", in der Oskar Roehler erzählt, wie der Hetzfilm der Nazis entstand, geriet zum Aufreger der Berlinale.

Von Carsten Heidböhmer und Sophie Albers

Am Ende der Pressevorführung bricht sich der Unmut unter den Journalisten Bahn: Laute Buhrufe schallen durch den Berlinale-Palast. Die einen stapfen wütend aus dem Saal. Andere verharren in Schockstarre. Solch heftige Reaktionen erlebt man hier selten. Oskar Roehlers Festivalbeitrag "Jud Süß - Film ohne Gewissen" ist ohne Frage der Aufreger des Festivals - unter anderem weil Regisseur Oskar Roehler betont, Fiktion zu zeigen, aber doch historische Originalaufnahmen verwendet. Aber worum geht es eigentlich?

In "Jud Süß - Film ohne Gewissen" erzählt Roehler die Geschichte des Filmschauspielers Ferdinand Marian. Der spielte 1940 die Hauptrolle in dem erfolgreichsten Propagandafilm der Nazizeit, "Jud Süß". Dessen Geschichte ist angelehnt an das Schicksal der historischen Figur des Joseph Süß Oppenheimer, der im 18. Jahrhundert aus dem jüdischen Ghetto bis zum engsten Finanzberater des Herzogs Karl Alexander von Württemberg aufstieg. Als der starb, wurde sein Finanzier unter falschen Anschuldigungen vor Gericht gestellt. Die Anklage lautete unter anderem Hochverrat und Schändung der protestantischen Religion. Vor allem warf man ihm vor, sich an einer 14-Jährigen vergangen zu haben. 1738 wurde er zum Tode verurteilt und gehängt.

Der Film zur "Endlösung"

Diese Geschichte wurde im Laufe der Jahrhunderte immer wieder aufgegriffen, von dem Romantiker Wilhelm Hauff ebenso wie von dem jüdischen Autor Lion Feuchtwanger. Als der deutsche Propagandaminister Joseph Goebbels auf Druck von Hitler 1939 endlich den "großen deutschen Film" produzieren sollte, wählte er diesen Stoff als Vorlage. Allerdings nicht ohne die Geschichte seinen Zwecken "anzupassen". So enthält der Film eine Szene, in der Oppenheimer eine "arische" Frau vergewaltigt. Am Schluss sieht man ihn am Galgen wimmernd um Gnade flehen. Der Film repetiert alle Klischees, die den Juden seit Jahrhunderten anhafteten. "Jud Süß" sollte, so Goebbels Kalkül, bei der deutschen Bevölkerung die Bereitschaft für die Maßnahmen der Vernichtung der europäischen Juden unterstützen: der Film zur "Endlösung".

Mit Veit Harlan verpflichtete Goebbels einen der populärsten Regisseure des Dritten Reiches. Bei der Besetzung der Hauptrolle gab es dagegen Probleme: Große Stars wie Emil Jannings, Willi Forst, Gustaf Gründgens und Paul Dahlke lehnten die Rolle allesamt ab. Auch Ferdinand Marian zierte sich lange. Er war politisch nicht interessiert, jedenfalls kein Sympathisant der Nationalsozialisten. Während der Dreharbeiten versuchte er, die Absicht des Films teilweise zu unterlaufen, indem er der Figur Oppenheimers sympathische Züge verlieh. Doch bewirkte er damit wohl das Gegenteil: Gerade weil er den Juden differenziert und nicht maskenhaft spielte, verschleierte er den offensichtlich propagandistischen Charakter des Films.

20 Millionen Zuschauer

Der Erfolg war gigantisch: Mehr als 20 Millionen Zuschauer sahen "Jud Süß". Und auch die ideologische Botschaft kam offenbar an. Das bestätigt auch der Schriftsteller Ralph Giordano, der den Film als Kind im Kino sah. In seiner Autobiografie erinnert er sich, dass nach dem Ende der Vorführung "die mörderische Wirkung des Films überwältigend präsent" gewesen sei. In manchen Städten kam es nach Vorstellungen zu anti-jüdischen Ausschreitungen.

Goebbels hatte sein Ziel erreicht. Für Ferdinand Marian wurde die Popularität des Films zur Last. Der "Jud Süß" sollte die Rolle seines Lebens bleiben. Obwohl er weiterhin als Schauspieler arbeitete, darunter in Helmut Käutners dem Nazi-Regime abgerungenen wunderbaren Film "Romanze in Moll", wurde er den Oppenheimer nicht mehr los. Er verfiel zunehmend dem Alkohol. Nach Ende des Krieges wurde Marian zunächst wegen seiner Mitwirkung in "Jud Süß" mit einem Berufsverbot belegt. 1946 kam er unter nie ganz geklärten Umständen bei einem Autounfall ums Leben.

70 Jahre später kommt nun der deutsche Regisseur Oskar Roehler ("Die Unberührbare", "Der alte Affe Angst"), um die Geschichte dieses Films zu erzählen, der bis heute nur unter strengen Auflagen gezeigt werden darf. Das Drehbuch von Klaus Richter basiert auf dem Buch "Ich war Jud Süß" von Friedrich Knilli. Der allerdings hat dem Film bereits vor der Premiere Geschichtsfälschung und Legendenbildung vorgeworfen.

Roehlers "Jud Süß - Film ohne Gewissen" erzählt davon, wie Goebbels persönlich Marian zwingt, die Hauptrolle des jüdischen Financiers zu übernehmen. Das stürzt den Mimen in eine moralische und berufliche Krise, weil er jüdische Freunde und seine Frau eine jüdische Großmutter hat. Außerdem fürchtet er, selbst für einen Juden gehalten zu werden. Als sein Versuch, den Verfolgten zu helfen, indem er Oppenheimer besonders menschlich und sympathisch spielt, scheitert, zerbricht der Mann.

Nicht Fisch, nicht Fleisch

Weil es sich doch um einen Spielfilm handle, wie Goebbels-Darsteller Moritz Bleibtreu und Regisseur Oskar Roehler in der Pressekonferenz immer wieder betonen, habe man ein Recht auf Fiktion. "Wir alle leben von der Interpretation", entgegnete Bleibtreu auf den Vorwurf, dass die Frau des realen Marian Katholikin war und Marians Tod bisher als Unfall und nicht als Selbstmord galt. Knilli wirft Roehler vor allem vor, Marian zu einem "Judenretter" zu stilisieren, der er nicht war.

Details, könnte man sagen, wenn "Jud Süß - Film ohne Gewissen" sich irgendwann zwischen Authentizität und Fiktion entschieden hätte. Doch Roehler stellt Drama und Satire, echt und falsch, ernsthaft und surreal immer wieder so eng nebeneinander, dass man zuweilen das Gefühl hat, die Schauspieler spielen zur gleichen Zeit in unterschiedlichen Filmen. Bleibtreus Goebbels ist ein Clown, während Tobias Moretti in der Rolle des Marian alle Drama-Register zieht und eine seiner intensivsten Vorstellungen überhaupt gibt. Martina Gedeck spielt die von Liebe und Existenzangst getriebene Frau Marians mit großer Tiefe. Dann taucht Gudrun Landgrebe auf, als Gattin eines KZ-Aufsehers, und lässt sich während eines Bombenangriffs auf Berlin am offenen Fenster von Marian von hinten nehmen, während sie ihn den Text der Vergewaltigungsszene aus "Jud Süß" zitieren lässt. Selten war die Stimmung auf einer Pressekonferenz so aggressiv.

Deutsche Reflexe und Obszönität

Die Buhrufe waren sicher auch ein Reflex, das in Deutschland übliche grundsätzliche Unbehagen beim Thema Drittes Reich, das Tabu des spielerischen Umgangs. Doch tatsächlich hat Roehlers Film auch etwas Öbszönes, und das nicht nur bei der Sexszene am Fenster während eines Bombenangriffs. Der lapidare Umgang mit der Realität nimmt ungeheuere Formen an, wenn Originalaufnahmen mit neu gedrehtem Material verschmelzen, wenn sie untergehen in einer neuen Geschichte, die gar nicht Wert darauf legt, echt zu sein. Warum dann Originalmaterial, fragt man sich.

Das fragt sich auch Jan Harlan, Neffe des "Jud Süß"-Regisseurs Veit Harlan: "Die Darsteller sind ausgezeichnet, und der Schnitt ist sehr gut. Peinlich berührt hat mich, dass die Schwarz-Weiß-Clips aus dem ekelhaften Original am eindrücklichsten sind".

"Jud Süß - Film ohne Gewissen" wird im Herbst 2010 in den deutschen Kinos anlaufen.

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