Lüge als Stilmittel (original) (raw)

In Stuttgart steht der Nazi-Propagandafilm "Jud Süß" auf dem Programm, die Vorstellungen sind restlos ausgebucht. Grund zur Sorge? Nein. Ein Museum bemüht sich, das antisemitische Hetzwerk von 1940 zu enttarnen und den Missbrauch des Mediums Film in der NS-Zeit zu erklären.

Von Jörg Isert

Es ist ein ungewöhnlicher Film, der seit Ende Januar in Stuttgart gezeigt wird. Gespielt wird eine der erfolgreichsten deutschen Filmproduktionen. Ein echter Blockbuster. Mehr als 20 Millionen Deutsche haben ihn gesehen, deutlich mehr als "Der Schuh des Manitu". Noch einmal so viele Menschen in Europa. Dennoch taucht der Film in keiner Hitliste auf. Es ist der klassische Kampf zwischen Gut und Böse. Auf der einen Seite stehen aufrechte Bürger. Auf der anderen Seite ein aalglatter Typ und sein schmuddelbärtiger Helfershelfer. Gemeinsam manipulieren sie einen Staatschef und hebeln Recht und Ordnung aus. Das Schlimme an dem Film ist, am Anfang wird darauf hingewiesen: Die "geschilderten Ereignisse beruhen auf geschichtlichen Tatsachen".

Noch schlimmer ist, dass dieser Satz nicht stimmt. Der Film ist "Jud Süß". Die deutsche Produktion von 1940 der bekannteste aller Propaganda-Streifen. Ein Werk, das es der treibenden Kraft, die dahinter steckte, äußerst angetan hatte: "Der Film hat einen stürmischen Erfolg. Der Saal rast. So hatte ich es mir vorgestellt", schrieb Joseph Goebbels über die Uraufführung in sein Tagebuch. So hatte es sich Hitlers Propagandaminister vorgestellt. Er hatte die Machart des Films maßgeblich beeinflusst.

"Extreme politische Propaganda ist ein aktuelles Problem"

75 Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland findet im baden-württembergischen Haus der Geschichte die Ausstellung "Jud Süß - Propagandafilm im NS-Staat" statt. Der Termin der Ausstellung sei Zufall, erläutert Ausstellungsleiterin Paula Lutum-Lenger. Die Intention hinter der Schau: "Extreme politische Propaganda ist ein aktuelles Problem, und ihre Wirkungsweise ist noch längst nicht abschließend geklärt. Schon aus diesem Grund gilt es, die Menschen auf die Wirkungsweise von politischer Hasspropaganda aufmerksam zu machen."

Prozesse gegen die Filmmacher

Die Sonderausstellung "Jud Süß - Propagandafilm im NS-Staat" läuft bis zum 3. August 2008 im Haus der Geschichte Baden-Württemberg in Stuttgart. Im Begleitprogramm präsentiert und bespricht das Museum auch den antisemitischen Propagandafilm von 1940. Gezeigt wird auch, was nach Kriegsende aus den Machern des Films wurde: Dem Regisseur Veit Harlan wurde zweifach der Prozess gemacht. Beide Male wurde er frei gesprochen. Auch Werner Krauß, der neben dem Sekretär Levi die fünf weiteren "jüdischen" Sprechrollen im Film spielte, kam vor Gericht. Er wurde als "minderbelastet" eingestuft, 1954 erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Ferdinand Marian, der den Jud Süß spielte, wurde nach 1945 die Schauspieltätigkeit untersagt, wegen seiner Mitwirkung am Film. Er starb bei einem Autounfall, vermutlich einem Suizid.

Die aufwändig gestaltete Ausstellung will den Missbrauch des Mediums Film zeigen. Den Umgang der Nationalsozialisten mit der deutschen Geschichte. Wie eine reale Person zum Feindbild schlechthin wurde: Dem des bösen Juden. Sechs Szenen des Films werden im Halbdunkel gezeigt. Sie sollen die propagandistische Machart des Films von Regisseur Veit Harlan verdeutlichen. Zudem werden auf rund 600 Quadratmetern historische Materialien rund um das Hetzwerk gezeigt. Filmplakate, Drehbücher und propagandistische Pamphlete. Die Dokumente stammen zum größten Teil aus den Archiven der Babelsberger Filmstudios, wo "Jud Süß" gedreht wurde.

Die historischen Fakten: Joseph Süß Oppenheimer war ein Finanzberater, der im 18. Jahrhundert in den Diensten des württembergischen Herzogs Karl Alexander stand. Oppenheimer war, zumindest nach Meinung des gemeinen Volkes seiner Zeit, ein geldgieriger Intrigant. Er führte diverse Steuern ein, ohne die protestantischen Landstände um ihre Meinung zu fragen. Er verkaufte Handelsrechte für Salz oder Leder zu teuren Preisen. Er veranstaltete Glücksspiele. Kurz: Süß galt als verabscheuungswürdig.

Sechs Jahre lang hing die Leiche vor dem Tor

Dass Oppenheimer all dies ersann, um die überhöhten Regierungs- und Lebenshaltungskosten seines Herzogs zu decken, der im riesigen Barockschloss von Ludwigsburg residierte, war 1737 ohne Bedeutung. Da starb der Herzog an einem Schlaganfall. Sofort wurde sein vom Volk verhasster Finanzrat verhaftet. Wegen Amtshandels, Bestechlichkeit, Hochverrats, Majestätsbeleidigung wurde Oppenheimer angeklagt. Dass der machtbewusste Finanzberater kein Unschuldslamm, aber dennoch nicht schuldig war, spielte keine Rolle bei dem Schauprozess. Am 4. Februar 1738 wurde Oppenheimer hingerichtet: Tod durch den Strang, vor den Augen von 12.000 Bürgern. Sechs Jahre lang ließ man den Leichnam vor den Toren Stuttgarts hängen.

"Der erste wirklich antisemitische Film"

Dass 1738 keiner der Anklagepunkte plausibel nachgewiesen werden konnte, interessierte auch Joseph Goebbels wenig. Hitlers wichtigster Mann hatte das perfekte Ausgangsmaterial für ein Hetzwerk, das direkt vom Propagandaministerium in Auftrag gegeben wurde. Und das Goebbels später so bezeichnete: "Der erste wirklich antisemitische Film".

Aus einem schlimmen Stück deutscher Geschichte gelang es dem Propagandaminister, eine noch viel schlimmere Geschichte zu spinnen. Deren Vertrieb, Verkauf und Vorführung 1963 vom deutschen Bundesgerichtshof verboten wurde, wegen Volksverhetzung und Verfassungswidrigkeit. Und so darf der Film in Stuttgart nur gezeigt werden, weil es ein Rahmenprogramm gibt. Fachleute weisen vorab auf die propagandistischen Mittel hin, die in "Jud Süß" zum Einsatz kommen. "Sie werden es schwer haben, den Film zu begreifen", meint Gerd Albrecht, der mehrere Bücher über die Bedeutung des Films im Dritten Reich veröffentlicht hat. "Achten Sie darauf, wie ein Film mit uns spielen kann."

Von Anfang an erscheinen die Juden im Film als einheitliche und gleichzeitig konturlose Masse. Um das zu erreichen, wurde der Gesang eines Rabbiners mit einem Volkslied zusammengemischt. Der Effekt beim Zuschauer ist der Gedanke: Hier hat man es mit einem unheimlichen, schwer zu fassenden Etwas zu tun. Der von Ferdinand Marian gespielte Jud Süß ist ein schmieriger, schleimiger Typ. Ein Dämon, der seine Mitmenschen verführt. Seinen Bart rasiert er ab, um zu verbergen, dass er ein orthodoxer Jude ist. Einmal der Berater des Herzogs, sorgt Süß dafür, dass die sogenannte "Judensperre" in Stuttgart aufgehoben wird. Als Folge fallen unzählige Juden aus der ländlichen Umgebung in der Stadt ein. Die Szene wirkt wie der Beginn einer Rattenplage.

Ein weiteres Stilmittel: Unverständlichkeit. Der Advokat von Süß, gespielt von Werner Krauß, ist ein jiddisch daher brabbelndes Wesen, dessen Sprache etwas Bedrohliches hat. Während Marian einen Charakter verkörperte, der das "wahre Wesen" der jüdischen "Rasse" vor seiner Umgebung verbirgt, sollte Krauß "den Juden" als das zeigen, was er wirklich ist: Unsauber. Schmuddlig. "Nicht klug, sondern schlau", wie der von Kraus dargestellte Sekretär Levi im Film sagt.

"Wie die Heuschrecken kommen sie über unser Land!"

In einer Schlüsselszene des Films wird der Herzog belauscht. Zu sehen ist die Skulptur einer Teufelsfratze an einer Wand. Aus dem Mund heraus blicken der spionierende Süß und sein Kumpane Levi. Während einer deutscher Berater des Herzogs den Reformator Martin Luther zitiert, der immer wieder antijüdische Ausfälle hatte: "Darum wisse, du lieber Christ, dass du nebst dem Teufel keinen giftigeren Feind hast denn einen rechten Juden." Kurz danach folgt der Satz: "Wie die Heuschrecken kommen sie über unser Land!"

Bald danach findet Jud Süß sein Ende. Der Richter zitiert aus dem alten "Reichskriminalgesetz": "So aber ein Jude mit einer Christin sich fleischlich vermenget, soll er mit dem Strang vom Leben zum Tode gebracht werden." Schuldig - wegen Blutschande. Dem Opfer, einer jungen deutschen Frau, hatte Süß wiederholt Avancen gemacht, erfolglos. Also hatte er sie vergewaltigt. Die Arierin begeht Selbstmord. Schließlich hätte sie nach nationalsozialistischem Verständnis nie wieder ein normales Kind gebären können.

An "Jud Süß" ist viel erfunden

Das "Reichskriminalgesetz" gab es tatsächlich nicht. Auch die nationalsozialistische Vorstellung von "Rasse", die der Film der historischen Vorlage aufzwingt, existierte im 18. Jahrhundert nicht. Und die Vergewaltigung gab es nie. Hinter dem zentralen Motiv der Rassenschande steckte Goebbels Idee, das Sexualverbot zwischen Juden und Nichtjuden im Dritten Reich aus der Vergangenheit heraus zu begründen. Das jüdische Feindbild sollte gerechtfertigt werden, der Antisemitismus eine historische Begründung erhalten.

Auch sonst ist an "Jud Süß" viel erfunden: Im Film wird aus dem einfachen Berater Oppenheimer ein hoher Minister. Das wäre nie gegangen, denn im 18.Jahrhundert hatten Juden fast keine Rechte. Und auch den Einfall der Juden in Stuttgart gab es nie. "Wer historisch gebildet war, konnte das alles schon 1940 wissen", so Soziologe Albrecht.

"Junge Leute verstehen die Propaganda nicht"

So schwierig es klingen mag: Der Film "Jud Süß" ist faszinierend. Nicht nur, weil er den Zuschauern die totalitäre Vergangenheit des deutschen Volkes in Erinnerung ruft. Sondern auch, weil er spannend ist - und zeigt, wie leicht Lügen zu gefühlter Wahrheit werden. Weil man dem, was mit eigenen Augen gesehen wird, umso bereitwilliger Glauben schenkt. Ein älterer Zuschauer bei einer Stuttgarter Vorführung meinte, ein deutscher Wehrmachtssoldat habe ihm einmal erzählt, was er gedacht habe, nachdem er den Film 1940 sah: "Ich war so aufgebracht, dass ich jeden Juden hätte umbringen können." Goebbels hatte seine Mission erfüllt.

"Junge Leute begreifen oft gar nicht, dass man "Jud Süß" als Propagandafilm bezeichnet", erläutert Gerd Albrecht nach dem Vorstellungsende. Kein Wunder: In vielen Hollywood-Filmen kommen ähnliche Stilmittel zum Einsatz. Da geht der Kampf Gut gegen Böse allerdings nicht gegen eine Bevölkerungsschicht. Sondern gegen Außerirdische. Sofort ist man gewillt, Klischees und stereotyp gezeichnete Negativ-Charaktere zu akzeptieren. Dass "Jud Süß - Propagandafilm im NS-Staat" zu solchen Überlegungen anregt, ist die große Stärke der Ausstellung. Schön kann man sie nicht nennen. Aber wichtig.

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