Wie es ist, Polizist in einem Unrechtsstaat zu sein (original) (raw)
Michael Jensen - Totenland Wie es ist, Polizist in einem Unrechtsstaat zu sein
Ordnungshüter in Zeiten der totalen Unordnung. Am Ende der NS-Diktatur musste sich die Polizei völlig neu finden. Zwölf Jahre lang waren die Beamten entweder der SS oder der Wehrmacht zugeordnet und gehörten damit zum System der Unterdrückung und Entrechtung.
© Rosseforp/ / Picture Alliance
"Totenland" ist ein außergewöhnlicher Krimi in einer bisher kaum beachteten historischen Zeitspanne. In den letzten Tagen des NS-Staates sucht ein Polizist in einem Mordfall nach der Wahrheit zwischen Standgerichten, Willkür und Lynchjustiz.
Darum geht’s:
Deutschland im April 1945, nur noch wenige Wochen bis zur bedingungslosen Kapitulation des sogenannten Dritten Reiches. Längst stehen die Briten in Niedersachsen und rücken gegen Schleswig-Holstein vor. Hier verrichtet der ehemalige Kripo-Kommissar Jens Druwe seinen Dienst. Unfreiwillig. Er wurde aus Berlin strafversetzt, im Rang degradiert und ist nun Ordnungspolizist in einem Kaff bei Flensburg. Als auf einem Acker die übel zugerichtete Leiche des NSDAP-Kreisleiters gefunden wird, verdächtigen seine Kollegen sofort einen in der Nähe gefassten flüchtigen KZ-Gefangenen. Der Zusammenbruch des Nazi-Regimes ist nahe, dass spüren alle und niemand will sich auf den letzten Metern noch die Finger am Mord eines NS-Funktionärs die Finger verbrennen. Schließlich sollen Reichführer Heinrich Himmler und Hitlers möglicher Nachfolger Karl Dönitz auf dem Weg in den Norden sein, um einen Nordstaat zu gründen oder die Alliierten zu überzeugen, zusammen mit SS und Wehrmacht gegen die Russen zu kämpfen. Die Gerüchte schießen ins Kraut. Niemand weiß Genaues. Ein Menschenleben ist in diesem "Totenland" ohnehin nicht mehr viel wert. Schon gar nicht das eines geflohenen KZ-Insassen. Erschießen und Fall erledigt.
Michael Jensen - Totenland
Den Kriminalroman gibt es als Hörbuch zum Download. Die zwölf Stunden werden von Rolf Berg gelesen.
© Aufbau Verlag
Doch Jens Druwe ist es nicht egal. Er war einst aus Überzeugung Polizist geworden, damals im Berlin der Zwanziger. Nach dem Machtwechsel verriet er im NS-Polizei-Apparat fast vollständig seine Ideale. Körperlich und seelisch völlig zerrüttet will er zumindest in seinem letzten Fall die Wahrheit ans Licht bringen. Ein fast aussichtsloses Unterfangen in einem sich auflösenden Land, in dem so etwas wie Recht und moralisches Handeln schon seit Jahren nicht mehr existieren.
Warum lohnt das Buch?
Die fünf Wochen vor dem totalen Zusammenbruch des Dritten Reiches sind eine der extremsten Zeiten in der deutschen Geschichte überhaupt. In den letzten Tagen richtete sich die Gewalt des NS-Systems vor allem gegen die eigene Bevölkerung. Nie zuvor waren die Standgerichte aktiver. Jedwede Äußerung oder Tat, die auch nur den Anschein der Wehkraftzersetzung erweckten, konnten ein Todesurteil bedeuten. Die Justiz war radikal politisch und schreckte auf den letzten Metern in den Untergang auch nicht vor blankem Mord zurück, solange es dem Ziel der Einschüchterung und Loyalitätserzwingung von Soldaten und Zivilisten diente. Unmittelbar vor der Kapitulation herrschte auf den Straßen schließlich ein staatlich sanktionierter "Totentanz" aus persönlicher Willkür von Fanatikern und Lynchjustiz. In dieser apokalyptischen Welt will Polizist Jens Druwe einen politischen Mord aufklären. Ausgerechnet. Das Spannungsverhältnis zwischen Wahrheitssuche im Unrechtsstaat, persönlicher Schuld und einem Polizeiapparat, der über Leichen geht, macht "Totenland" zu einem außergewöhnlichen Krimi.
Wer hat's geschrieben?
Jens-Michael Wüstel wurde 1966 in Schleswig-Holstein geboren und ist hauptberuflich Arzt und Trauma-Therapeut. Die seelischen Spätfolgen des Zweiten Weltkrieges gehören zu seinen großen Themen, die er nun unter seinem Autoren-Pseudonym Michael Jensen auch in Romanen verarbeitet. Die intensive Beschäftigung mit Schuld, Sühne und Scham der Überlebenden des Krieges ist seinem Romanhelden Jens Druwe deutlich anzumerken. Im fiktiven Inspektor sind die Erfahrungen der Deutschen von 1900 bis 1945 wie unter einem Brennglas gebündelt. Der Strahl ist zwar manchmal etwas zu scharf, doch er gibt der Figur eine für einen Kommissar ungewohnte Tiefe.
Wer spricht?
Die harte Sprache des Buches mit ihren kurzen, oft nur drei Worte umfassenden Sätzen, ist wie gemacht für die kantige Stimme des Schauspielers und Synchronprofis Rolf Berg. Er haucht Jens Druwe genau jene Portion Restleben ein, die in dem Kriminalkommissar noch zu finden sind. Druwe ist verhärtet, desillusioniert aber kämpferisch und entgegen aller Widerstände stoisch wahrheitssuchend.
Was nervt?
Die Geschichte um Jens Druwe weiß über weite Strecken nicht, was sie eigentlich sein will. Ein Krimi oder eine Trauma-Diagnose der Kriegsgeneration. Manchmal fällt der Krimianteil leider deutlich zurück. Wer vorrangig einen Krimi vor interessanter historischer Kulisse erwartet, könnte enttäuscht werden, dafür fehlt es dem Plot an Raffinesse.