Die Schlacht um Zuschauer (original) (raw)
Der Kampf um Zuschauer tobt. Bedrängt von Anbietern wie Netflix und Amazon, vesuchen sich deutsche Sender in anspruchsvollen Serien - endlich.
Dieser Artikel erschien in der stern-Printausgabe Nr. 46 am 6. November 2014.
Gute Geschichten können verstörend sein, traurig oder zum Schreien komisch. Sie können von der Kraft der Liebe erzählen oder von der des Hasses; sie führen in fremde Welten oder entdecken im Grau des Alltags das Besondere, das Unerhörte. Gute Geschichten dürfen vieles sein, nur eines nicht: leidenschaftslos und ohne Temperatur.
Als die Produzentin Regina Ziegler gemeinsam mit der Drehbuchautorin Annette Hess und der MDR-Redakteurin Jana Brandt für die Verfilmung von "Weissensee" kämpften, eine sechsteilige Familiengeschichte in der Spätphase der DDR, mussten sie sich diesen Vorwurf immer wieder anhören: dass ihr Stoff die Menschen nicht schnell genug berühre. Zu verworren, zu langatmig, zu viel Kunstwille. Das war 2009.
An einem milden Tag im Oktober 2014 steht Friedemann Fromm, 51, in einer alten Schreinerei in Berlin-Schöneweide. Fromm ist der Regisseur von "Weissensee", das auf einer Vorlage der renommierten Autorin Annette Hess, 47, basiert. Das Gelände ist mit Flatterband abgesperrt, Funkgeräte krächzen in die Stille hinein. #link;2137898;Hier wird eine Folge von "Weissensee" gedreht - für die dritte Staffel#. Ausstrahlung im Herbst 2015 in der ARD, um 20.15 Uhr, auf einem Platz, den man noch immer "die beste Sendezeit" nennt.
Die Anspannung am Set ist groß, auch bei Fromm. Er dirigiert leise, mit knappen Kommandos. Er will die Erwartungen übertreffen, wieder einmal. Ihn erfüllt mit Stolz, dass seine Serie gleich drei Leben geschenkt bekommt und wahrscheinlich sogar noch ein viertes. Es ist ein diebischer Stolz. "Wir haben gezeigt, dass man die Zuschauer nicht unterschätzen sollte", sagt er. "Sie mögen auch komplizierte Geschichten, wenn sie packend aufbereitet sind."
"Weissensee" ist die derzeit beste deutsche Fernsehserie. Und zugleich die größte Hoffnung, mit der die öffentlich-rechtlichen Sender in eine gewaltige Schlacht um Marktanteile ziehen.
Jeder ist sein eigener Programmdirektor
Es formieren sich in diesen Wochen mächtige Gegner im Kampf um den Zuschauer. Milliardenschwere, börsennotierte Unternehmen wie die Online-Videothek Netflix und der Internetriese Amazon. Gerade wurde Amazons Fire TV in Deutschland versandt; ein kleines Gerät, das an den Fernseher angeschlossen wird und das Zugriff auf mehrere Tausend Filme und Serien ermöglicht. Die Nachfrage war so überbordend, dass Amazon nur mit mehrwöchiger Verzögerung ausliefern konnte.
Netflix ist seit Mitte September auf Sendung. Die Firma aus Los Gatos, Kalifornien, will auch in Deutschland schaffen, was ihr in den Vereinigten Staaten bereits gelungen ist: den TV-Markt zu revolutionieren.
Binnen nur sieben Jahren hat Netflix ein Drittel aller Haushalte in den USA für sich gewonnen. Fast 40 Millionen Kunden. Wie auch Amazon macht Netflix ein bestechend simples und verführerisches Angebot: Es versendet Filme und Serien via Internet, sodass die Inhalte zu jeder Zeit an jedem Ort abgerufen werden können, ob klassisch auf dem Fernseher, dem Tablet, dem stationären PC oder dem Smartphone.
In Deutschland bedeutet dies das Ende der starren Programmschemata. Der Fernsehabend wird künftig nicht mehr punktgenau um 20.15 Uhr, nach der "Tagesschau", beginnen müssen. Die Primetime beginnt, wann der Zuschauer möchte. Jeder ist sein eigener Programmdirektor.
Frontalangriff auf ARD und ZDF
Amazon und Netflix locken das Publikum nicht nur mit einer überlegenen Technik. Sie stellen auch Inhalte her, die süchtig machen. Das Publikum wird angefixt mit hochklassigen Serien; mit Geschichten, die so noch nie erzählt worden sind.
Da ist zum Beispiel die brillante Politserie "House of Cards", produziert von Netflix. Es geht hier nicht bloß um Politik und ihre Inhalte, es geht darum, wie der Kongressabgeordnete Frank Underwood, gespielt von Kevin Spacey, an die Macht zu kommen versucht. Mit Lügen, mit Intrigen und den Beißreflexen eines Pitbulls. "House of Cards" hat das Figurenensemble, die erzählerische Kraft und Tiefenschärfe eines Romans. Dieses Format besitzt auch die neueste Netflix-Schöpfung "Orange Is the New Black", eine Komödie aus dem Frauenknast mit harten Bildern und viel Sex; sie gilt als das nächste große Ding und wird Teil unserer Alltagskultur werden, wie zuvor schon die US-Serien "Breaking Bad", "True Detective", "Mad Men" und zuletzt "Fargo", eine Weiterführung des Provinzkrimis aus den Neunzigern. Über Serien wird heute geschwärmt und diskutiert wie sonst nur noch über Fußball. Und jetzt muss man nicht mehr DVD-Boxen tauschen oder einander Links zustecken – jetzt gibt es all den guten Stoff bequem via Internet. Zu Flatrate-Konditionen für weniger als zehn Euro im Monat.
Das ist ein Frontalangriff auf ARD und ZDF. Ihnen drohen nun endgültig ganze Zuschauergenerationen wegzubrechen. Die 20- bis 40-Jährigen könnten an die Konkurrenz verloren gehen, womöglich für immer. Lange Zeit haben die Programmgestalter der Öffentlich-Rechtlichen auf die amerikanischen Serien geschaut wie auf einen bunten Schmetterling unter Glas. Schon schön diese Geschichten, toll gemacht, aber doch nichts für den Massenmarkt. Quotengift. Nichts für uns.
Erst jetzt, da Netflix & Co. in die deutschen Wohnzimmer drängen, schlagen ARD und ZDF zurück, auch RTL ist alarmiert. Es werden so viele erstklassige Serien produziert wie nie zuvor. "Weissensee" bekommt endlich Verstärkung. Das ZDF hat den Mehrteiler "Die Lebenden und die Toten" in Auftrag gegeben, mit Jürgen Vogel und Thomas Heinze als Ermittlerduo. Neu ist auch "Das Team", eine nordischdüstere Krimireihe. In Arbeit hat der Sender zudem eine historische Serie über die Berliner Charité und "Schuld" nach den Erzählungen von Ferdinand von Schirach. Moritz Bleibtreu spielt die Hauptrolle. Die ARD und der Pay-TV-Kanal Sky haben Tom Tykwer engagiert für eine aufwendige Reihe, die im Berlin der Weimarer Republik angesiedelt ist. RTL lässt "Deutschland!" drehen, eine Spionagegeschichte mit Maria Schrader und Ulrich Noethen. Frank Schätzings "Breaking News" wird von der Ufa Fiction verfilmt, und die Constantin AG schneidert aus Patrick Süskinds "Das Parfum" einen Achtteiler.
Gute Geschichten sind die letzte Chance der etablierten Sender, einen eigentlich verlorenen Kampf noch zu wenden.
"Wie können wir in Deutschland gutes Programm machen?"
Dass das Niveau steigt und nicht sinkt im deutschen Fernsehen, ist eine Besonderheit. Bislang lief es umgekehrt, wenn der Wettbewerb sich verschärfte. Als die Sender Sat.1 und RTL in den 80er Jahren auf Sendung gingen, passten sich ARD und ZDF nach unten an. Sie kopierten die Privaten, weil sie ihre Quoten verteidigen wollten. Sie wurden greller, lauter, klamaukiger und hievten unzählige Quiz- und Talkshows ins Programm.
Bei den Öffentlich- Rechtlichen hören sie die Frage gar nicht gern, ob ihnen jetzt schon wieder die Konkurrenz die Marschrichtung vorgibt. Norbert Himmler, der Programmdirektor des ZDF, sagt: "Wir lassen uns nicht treiben." Das Angebot von Netflix zum Beispiel sei noch viel zu dünn, behauptet er: "Ich nehme Netflix erst in dem Moment ernst, in dem es eine erkleckliche Menge an hochkarätigem Inhalt anbietet."
Himmler, 43, sitzt in seinem Büro im 14. Stock in Mainz-Lerchenberg. Er ist schnell aufgestiegen beim ZDF. Mit 31 Jahren wurde er Chef der Planungsredaktion, mit 37 übernahm er die Leitung von ZDF Neo und mit 41 die Programmdirektion. Himmler schaut einige der Netflix-und HBO-Serien selbst gern, das sagt er gleich zu Beginn des Gesprächs. ",House of Cards‘ und ,Breaking Bad‘ sind großartig. Ich bin ein Fan davon. Doch wir müssen uns beim ZDF fragen: Was ist unser Weg? Wie können wir in Deutschland gutes Programm machen?"
Die Amerikaner geben die Antwort vor. Das würde Himmler nie zugeben. Er tut so, als wäre Netflix eine Mücke, die er mit einer Hand wegwedeln kann. Dabei ist der Einfluss der Amerikaner gewaltig, nicht nur weil sie mit aller Macht auf Expansion drängen. Sie setzen mit ihren Serien auch inhaltliche und ästhetische Standards. Sie haben ein Genre völlig neu definiert, das in Deutschland seit Dieter Wedels "Schattenmann" in den Neunzigern vor sich hin döste: die Serie, deren Folgen ineinandergreifen wie Teile einer Kette.
Es ist ein neuer Heldentypus, der die amerikanischen Serien so schillernd und gleichzeitig so glaubwürdig macht. Es gibt hier nicht den Guten, der gegen das Böse kämpft; es gibt nur ambivalente, zerrissene Typen, wie zum Beispiel in "True Detective", wo zwei dubiose Ermittler durch ein abgewracktes Louisiana rauschen und eben nicht durch die weißen Traumwelten von Miami oder Beverly Hills, an denen man sich so sattgesehen hat.
"Fernsehen, das wehtun wird"
In Deutschland wagen sich jetzt die ersten Regisseure an ähnlich sperrige Geschichten. Matthias Glasner, 49, arbeitet gerade an der Postproduktion von "Die Lebenden und die Toten", einer ZDFSerie, in der ein Kommissar von seiner kriminellen Jugend und finsteren Weggefährten von einst eingeholt wird.
Glasner hat eine lange Karriere als Fernseh- und Kinoregisseur hinter sich. Er hat "Tatorte" gedreht und preisgekrönte Kinofilme wie "Der freie Wille" und "Gnade"; er ist seit 20 Jahren im Geschäft und sagt: "Solch eine Aufbruchstimmung im Fernsehen, solch eine Freiheit habe ich noch nie gespürt. Das haben wir auch den US-Serien zu verdanken."
Glasner sitzt jeden Tag zehn, zwölf Stunden im Schneideraum in Berlin, fällt abends ins Bett in seiner Wohnung im Prenzlauer Berg, um am nächsten Morgen gleich weiterzuarbeiten. Noch Monate wird das so weitergehen. "Ich will die Zuschauer dazu verführen, sich auf eine extreme Serie einzulassen. Es ist Fernsehen, das wehtun wird, denn ich zeige kaputte Menschen in kaputten Bildern", sagt er. "Ich will die Grenzen des Mediums neu ausloten."
Glasner hat eine verstörende Geschichte gedreht, allein schon visuell: Schlieren ziehen sich über die Bilder, Farben laufen ineinander, Ränder fransen aus. Glasner ist nah am Experimentalfilm, auch inhaltlich. Es fehlt an Identifikationsfiguren, viele Handlungsstränge verlieren sich im Nirgendwo. Und dennoch entfaltet die Serie einen gewaltigen Sog. "Die Lebenden und die Toten" wird ein Ereignis werden, ein streitbarer Höhepunkt des kommenden Fernsehjahres.
Für die Eroberung von Marktanteilen scheint kein Preis zu hoch
Auch Amazon und Netflix setzen weiter auf spektakuläre Serien und investieren kräftig. Allein im dritten Quartal dieses Jahres hat Amazon 100 Millionen Dollar für Eigenproduktionen ausgegeben; Netflix dürfte sich in einer vergleichbaren Größenordnung bewegen.
Mit den Investments tun sich die Streamingdienste auch deshalb so leicht, weil sie sich ihrer Sache recht sicher sein können. Netflix und Amazon analysieren das Nutzungsverhalten ihrer Kunden permanent. Ein Leichtes, denn die Dienste sind internetbasiert. Sie wissen, wer was gern schaut, sie wissen, welche Filmszenen nicht funktionieren und wann die Zuschauer wegklicken. Die Datenpools sind gigantisch und wahre Schätze, denn aus ihnen lassen sich Erkenntnisse für neue Serien gewinnen.
Die Netflix-Kreation "House of Cards" etwa ist auch das Produkt von Algorithmen. Der Computer gab zumindest die Rahmendaten vor: Thriller + Politik + Kevin Spacey (Hauptrolle). Zielgruppe: jung + gebildet (auch weiblich; für die Frauen wurde Robin Wright verpflichtet). Vermarktung: weltweit.
Im Fall von "House of Cards" vertraute Netflix voll auf die mathematischen Formeln der rund 800 Software-Ingenieure, die in der Zentrale in Kalifornien arbeiten. Es verzichtete auf einen Pilotfilm und bestellte gleich zwei Staffeln für insgesamt 120 Millionen Dollar.
Das Geschäft der Streamingdienste ist eine Wette auf die Zukunft. Weder Netflix noch Amazon erwirtschaften derzeit Gewinne; es geht beiden im Moment um die Eroberung von Marktanteilen, und dafür scheint ihnen kein Preis zu hoch zu sein. Doch die Nervosität bei den Aktionären wächst: Als Netflix kürzlich verkündete, im zurückliegenden Quartal statt 3,7 Millionen nur drei Millionen neue Abonnenten hinzugewonnen zu haben, stürzte der Börsenkurs an der Wall Street um bis zu 26 Prozent ab. Der Unternehmenswert sank binnen Stunden um sieben Milliarden Dollar, etwa die Summe, die die Deutschen jährlich an Rundfunkgebühren zahlen.
30 Millionen Euro für die erste Staffel von "Babylon Berlin"
Bei deutschen Fernsehmachern wächst auch die Bereitschaft, ins Risiko zu gehen und auf Zahltage in ferner Zukunft zu hoffen. Das waghalsigste Projekt verfolgen derzeit die ARD und der Pay-TV-Kanal Sky. Unter dem Titel "Babylon Berlin" soll in ihrem Auftrag Tom Tykwer Volker Kutschers Kriminalromane verfilmen –und zwar auf dem Produktionsniveau amerikanischer Serien.
Ein Sender allein könnte die Kosten nicht tragen; deshalb haben sich ARD und Sky zusammengefunden, zwei Kanäle, die eigentlich in einem Konkurrenzverhältnis stehen, vor allem bei der Ausstrahlung des Bundesligafußballs.
Wie der stern erfuhr, wird die erste Staffel von "Babylon Berlin" etwa 30 Millionen Euro kosten, sechsmal so viel wie "Weissensee". Ein einsamer Rekord in der Geschichte des deutschen Fernsehens, auch kein Kinofilm war je so teuer.
Kutschers Held, der Kriminalkommissar Gereon Rath, ermittelt im Berlin der 20er Jahre. Kein Milieu und kein Verbrechen ist ihm fremd, es geht um Mord, Drogen, Politik und Kunst. Die ARD hat „Babylon Berlin“ schon als "das ganze Panoptikum der aufregendsten Stadt der Welt" angekündigt.
Bislang ist die Serie nur eine kühne Idee. Es gibt noch keine Schauspieler, kein Drehbuch, keinen Zeitplan. Ausstrahlung frühestens 2016, vielleicht erst 2017. Alles ist in der Schwebe, auch weil keiner der Beteiligten Erfahrungen hat mit solch einer großen Nummer. Selbst Tom Tykwer nicht, der zwar Hollywood kennt, nicht aber das Seriengeschäft.
"Babylon Berlin" ist ein Experiment, der Versuch, ein deutsches Thema mit den Mitteln der amerikanischen Serie für den Weltmarkt aufzubereiten. "Babylon Berlin" muss international ein Erfolg werden, andernfalls drohen herbe Verluste. Egal, wie das Experiment ausgeht, es wird eine positive Wirkung haben in Deutschland. Der anspruchsvolle Zuschauer wird künftig heiß umworben werden, nicht nur aus Amerika, sondern auch von den Öffentlich-Rechtlichen.
Jenen Sendern, denen er nie kündigen konnte, obwohl sie ihn jahrelang vergessen hatten.