Wovor die Deutschen am meisten Angst haben (original) (raw)
Seit 33 Jahren erhebt die R+V Versicherung in Wiesbaden, wovor die Deutschen Angst haben. Alarmierend sind vor allem die schlechten Noten für Politiker.
Der Begriff von der "German Angst" beschreibt im internationalen Sprachgebrauch eine angeblich ausgeprägte Furchtsamkeit der Deutschen und eine daraus resultierende Zögerlichkeit, den Zumutungen der Gegenwart zu begegnen. Ausgerechnet darüber gibt die seit 33 Jahren erhobene Studie der Wiesbadener R+V Versicherung keine Auskunft, "da wir unsere repräsentative Umfrage nur in Deutschland erheben und deshalb keinen internationalen Vergleich anstellen können", sagt Studienleiter Grischa Brower-Rabinowitsch. Im bundesweit einzigen Langzeitvergleich über die Befindlichkeiten der Bundesbürger sowie deren Fokus auf unterschiedliche Sorgen wird auch ein sogenannter Angst-Index erhoben. Dieser sei in diesem Jahr sogar gesunken.
Studienleiter Grischa Brower-Rabinowitsch von der R+V Versicherung in Berlin erforscht, wovor die Deutschen Angst haben
© Metodi Popow / Imago Images
Herr Brower-Rabinowitsch, in den Medien wurde zuletzt viel über eine gefühlte Zerklüftung der deutschen Bevölkerung diskutiert. Die Wahlerfolge der populistischen Parteien AfD und BSW im Osten deuten darauf hin. Hat ihre Studie diese Vermutung bestätigt?
Die Prioritäten der Ängste haben sich im Vergleich zu den Vorjahren kaum verändert. Weiterhin bereiten zwei große Themenschwerpunkte den Menschen am meisten Sorgen. Der eine drückt sich in unterschiedlichen Punkten aus und betrifft den eigenen Wohlstand. Also die Angst vor steigenden Lebenshaltungskosten, dass Wohnen unbezahlbar wird, vor Steuererhöhungen oder der Kürzung staatlicher Leistungen. Der zweite Schwerpunkt ist die Angst vor den Folgen von Migration und Fluchtbewegungen. Die von ihnen angesprochene Spaltung der Gesellschaft fragen wir erst zum zweiten Mal ab, und sie ist erneut unter den Top Ten – in diesem Jahr auf Platz sieben. Fast die Hälfte der Menschen sorgt sich deshalb.
Soziologen der Berliner Humboldt-Universität wollen in einer anderen Studie aus dem Vorjahr herausgefunden haben, dass jene Spaltung nicht nachzuweisen sei.
Unsere Studie misst die Angst vor einer Spaltung und nicht die Spaltung selbst. Unsere Ergebnisse, die in Live-Befragungen entstehen, belegen aber, dass die Menschen eine solche Spaltung sehr wohl fürchten. Wir haben über die Jahre unfassbar große Datensätze angesammelt. Die zeigen, dass auch Berichte in den Medien über eine Zerklüftung der Gesellschaft die Sorgen der Menschen verstärken können, und dass eine solche auch verstärkt wahrgenommen wird.
Sie verzeichnen eine steigende Sorge vor politischem Extremismus. Bloß vor welchem?
48 Prozent der Befragten nennen in unserer Studie islamistischen Extremismus, knapp 40 Prozent sorgt der Rechtsextremismus. Linksextremismus spielt im Vergleich mit sieben Prozent kaum eine Rolle.
Steigende Lebenshaltungskosten bereiten in diesem Jahr mit 57 Prozent die meiste Angst und belegen Platz eins in der repräsentativen Studie „Die Ängste der Deutschen 2024“
Inwiefern unterscheiden sich die Ängste in den Regionen?
Die Angst vor Spannungen durch den Zuzug ausländischer Menschen ist im Osten mit 56 Prozent besonders ausgeprägt, nämlich 6 Prozentpunkte höher als im Westen. Interessant ist die Tendenz, dass in allen ostdeutschen Bundesländern die Ängste vor den Folgen der Zuwanderung auf den vorderen drei Plätzen zu finden sind. Allerdings in sehr unterschiedlicher Ausprägung. In Brandenburg und Sachsen-Anhalt sind die Sorgen vor Zuwanderung deutlich höher als in Thüringen. Das liegt aber auch daran, dass die Menschen in Thüringen in diesem Jahr grundsätzlich deutlich weniger ängstlich sind. Sie sind im Bundesdurchschnitt am wenigsten besorgt, neben denen in Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Hamburg. Die Zahlen für die Bundesländer sind bei insgesamt 2400 Befragten in Deutschland allerdings nicht mehr repräsentativ, die für den Ost-West-Vergleich sind es.
Interessant ist, dass die Zunahme autoritärer Herrscher die Menschen im Osten weniger umtreibt als jene im Westen. Verwundert Sie das?
In der Tat sorgen sich die Menschen in den neuen Bundesländern deutlich weniger, und zwar um fünf Prozentpunkte. Das ist eine klare Abweichung und insofern eine eindeutige Aussage. Die Schlüsse daraus müssen Experten ziehen.
Als besorgniserregend bezeichnen Sie die Werte, die der Politik im Allgemeinen ausgestellt werden. Was hat sich diesbezüglich verändert?
Wir fragen Schulnoten ab, bitten die Befragten, die Leistung der Politikerinnen und Politiker zu bewerten. Hier erhalten wir eine besorgniserregende Durchschnittsnote von vier. Ein Drittel der Befragten stellt der deutschen Politik die Note fünf oder gar sechs aus. Die Menschen glauben nicht mehr daran, dass die Politiker in der Lage sind, die Probleme des Landes zu lösen. Damit sind Regierung und Opposition gleichermaßen gemeint. Das ist im wahrsten Sinne ein Armutszeugnis.
Angst vor Naturkatastrophen belegt nur Platz 13, Angst vor dem Klimawandel Platz 15
Erstaunlich ist, wie wenig die Menschen der Klimawandel umtreibt. Naturkatastrophen rangieren auf Platz 13, der Klimawandel auf Platz 15. Beide haben im Vergleich zum Vorjahr in ihrer Bedeutung abgenommen.
Die Angst vor dem Klimawandel fragen wir seit 2018 ab, damals lag sie noch um sechs Prozentpunkte höher als heute. Nach der Angst vor Naturkatastrophen fragen wir seit 2003, sie ist heute 20 Prozentpunkte unter dem Höchststand von 2010. Das ist ein bemerkenswerter Unterschied. Und dies, obwohl es fast jedes Jahr zu Überschwemmungen und anderen Folgen des Klimawandels kommt.
Wie kann das bloß sein?
Auch das erheben wir nicht, ich kann Ihnen nur meine persönliche Meinung dazu sagen. Einerseits haben sich die Ängste der Menschen verschoben. Der Angst um den eigenen Wohlstand steht im Vordergrund. Andererseits liegt auch auf dem Klimawandel nicht mehr die große öffentliche Aufmerksamkeit. Die großen Klimademonstrationen von "Fridays for Future" gibt es in der Form nicht mehr, die Klebe-Aktionen der "Letzten Generation" haben die öffentliche Meinung eher negativ beeinflusst und den Grünen fällt es immer schwerer, sich mit ihren Themen durchzusetzen. Auch der Druck der Medien hat nachgelassen. Ich habe den Eindruck, dass das Spektrum all dieser Beobachtungen einen Einfluss auf die Umfrage-Ergebnisse hat.
Seit wann fragen Sie die Menschen, ob ihrer Ansicht nach von der künstlichen Intelligenz Gefahr ausgeht?
Das ist ganz neu. Platz 20 ist kein besonders hoher Einstieg.
Auffällig ist, dass die Sorge um die Wirtschaftslage deutlich höher ist als die Angst, den eigenen Arbeitsplatz zu verlieren. Sollte das nicht zusammenhängen?
Hier stellen wir eine deutliche Schere fest. Das eine ist mit 48 Prozent unter den Top Ten, die Angst vor dem Jobverlust rangiert mit 22 Prozent deutlich dahinter. Wir können es uns nur damit erklären, dass ein weitgehendes Vertrauen besteht, dass, wenn es hart auf hart kommt, der Staat einspringt, es Rettungspakete für große Arbeitgeber gibt, Kurzarbeit und ähnliche Maßnahmen. Und die Menschen haben offensichtlich den subjektiven Eindruck, dass ihr Arbeitsplatz zurzeit nicht in Gefahr ist.
Welchen Einfluss haben Ihre Studien auf das Handeln der Politik? Werden die Ergebnisse ernst genommen?
Ich bin den Kollegen und Kolleginnen, die vor 33 Jahren die Umfrage begonnen haben, sehr dankbar. Denn es ist die einzige Langzeitstudie zu den Ängsten der Deutschen. Dadurch ist sie wertvoll unter anderem für Wissenschaft und Politik, sie hat eine Relevanz im gesellschaftlichen Diskurs. Dass Parteien die Ergebnisse für ihre jeweiligen Argumentationen nutzen, können und wollen wir nicht verhindern. Ob die Politik auch die richtigen Schlüsse zieht, kann ich nicht sagen.
Langzeit-Betrachtung: Mit acht Prozentpunkten hat die Angst vor politischem Extremismus am stärksten zugenommen.
Gibt es eine Art Rückkopplung, beeinflussen also die Ergebnisse, die medial diskutiert werden, auch die Ängste selbst?
Das ist eine spannende Frage. Ich bin jedenfalls positiv überrascht, dass die Ängste grundsätzlich rückläufig sind, trotz einer negativ geprägten öffentlichen Debatte, die oft den Eindruck erweckt, dass das Land geradezu am Abgrund steht, und auch die die Sorge vor Zuwanderung nicht explodiert ist.