Wie Goslar zum Sehnsuchtsort für Flüchtlinge wurde (original) (raw)

Nach Berichten von Al Jazeera Warum alle Flüchtlinge verrückt nach Goslar sind

Der Bürgermeister von Goslar will mehr Flüchtlinge aufnehmen, um das Wachstum anzukurbeln. Dann rührt Al Jazeera die Werbetrommel für die Stadt im Harz - und der CDU-Mann ist ein Star im Morgenland.

Goslar ist eine kleine Stadt im niedersächsischen Teil des Harzes. Hier reiht sich ein Fachwerkhaus an das nächste, Touristen lauschen dem Glockenspiel auf dem Marktplatz. Doch blickt man hinter die romantische Mittelalterfassade, kommen dieselben Probleme wie in vielen Kommunen zum Vorschein: die Region überaltert, junge Menschen ziehen weg. Pro Jahr verliert die Stadt bis zu 2000 Einwohner. Kurz nach der Wende lebten in Goslar noch um die 60.000 Menschen, heute sind es nur noch 42.000.

Um die Abwärtsspirale zu stoppen, braucht man kreative Lösungen - und davon hat Oliver Junk jede Menge in petto. Seit der 38-Jährige die Oberbürgermeisterwahl 2011 gewann, lässt er nichts unversucht, um die Stadt auf Vordermann zu bringen. Er fusionierte Goslar mit dem angrenzenden Vienenburg, um den Einwohnerschwund aufzuhalten. Außerdem knipste Junk ab 24 Uhr die Straßenbeleuchtung ab, um 100.000 Euro im Jahr für den Stadthaushalt einzusparen. Doch die Maßnahme kam nicht gut an und brachte ihm den unliebsamen Beinamen "Fürst der Finsternis" ein.

Ein begnadeter Selbstvermarkter

Im November 2014 bewies Junk, dass er nicht nur ein einfallsreicher Politiker ist, sondern auch ein begnadeter Selbstvermarkter: Auf einer öffentlichen Veranstaltung mit Jürgen Trittin und Peter Gauweiler stellte er sich als der erste Bürgermeister Deutschlands vor, der mehr Flüchtlinge bei sich aufnehmen will - und landete prompt in fast jeder großen Tageszeitung.

Während viele Kommunen unter dem stetig wachsenden Flüchtlingsstrom ächzen, zeigte Junk klare Kante: "Was spräche dagegen, wenn wir für Göttingen oder Braunschweig die Flüchtlinge mit unterbringen?" Während in Goslar ganze Häuserblocks und Hotels leer stehen, müssten Flüchtlinge in anderen Städten in schnell zusammengeschusterten Notunterkünften leben. "Es ist doch absurd, dass sie in Göttingen neue Gemeinschaftsunterkünfte für Flüchtlinge bauen müssen, während hier leer stehende Wohnungen verrotten", sagt er der "Zeit".

"Hallo Bruder Oliver"

Was für Wellen seine Äußerung schlagen würde, ahnte Junk nicht. Denn im arabischen Raum kam das Bekenntnis zu mehr Flüchtlingen gut an - offenbar zu gut: Nachdem Al Jazeera über die Pläne des jungen CDU-Politikers berichtete, wurde die Stadtverwaltung mit Nachrichten aus Syrien, Algerien und Marokko überhäuft.

Auch der arabischsprachige Nachrichtensender al-Arabiya rührte die Werbetrommel: In einem Videobeitrag hieß es, Goslar sei eine der schönsten Städte "im Land des Mercedes". Im britischen "Independent" wurde der großgewachsene CDU-Mann mit altbackener Brille als Gegenpol zur Pegida-Bewegung vorgestellt. Die britische Tageszeitung war jedenfalls voll des Lobes: "Oliver Junk dürfte noch nicht als deutsches Äquivalent zu Martin Luther King anerkannt sein, aber auch er hat einen Traum."

"Ich war total überrascht von dieser Dimension", sagt Junk in einem "NDR"-Beitrag. "Dass das natürlich diskutiert wird in Niedersachsen, habe ich gehofft. Dass das medial so durchschlägt, damit konnte niemand rechnen. Das habe ich nicht vorhergesehen."

"Wir wecken Erwartungen, die wir nicht erfüllen können"

Mehr als 400 Anfragen aus aller Welt trudelten in den letzten Wochen ein, erklärte Stadtsprecher Christian Burgart auf Anfrage des stern. Manche der in gebrochenem Deutsch formulierten Briefe und Nachrichten seien an den "Sehr geehrten Herrn Dr. Oliver" gerichtet - wahlweise auch an "Bruder Oliver" oder "Oberbürgermeister von Goslar Vorsitzender Oliver Junk Esquire".

Einige Flüchtlinge nahmen den Vorschlag des Oberbürgermeisters offenbar für bare Münze: Wie die "Hannoversche Allgemeine Zeitung" berichtet, reiste eine bosnische Familie mit Touristenvisum vor Weihnachten nach Goslar, um in dem beschaulichen Harzstädtchen Asyl zu beantragen. Allerdings kehrte schnell Ernüchterung ein, als die Stadt weder die herbeigesehnte Wohnung noch eine Arbeitsstelle anbieten konnte. So blieb der Behörde nichts weiter übrig, als die bosnische Familie an die Erstanmeldeeinrichtung nach Braunschweig zu verweisen.

Denn: Junk ist für Flüchtlinge überhaupt nicht zuständig, sondern der Landrat des Landkreises Goslar. Und der ist vom Vorstoß des Bürgermeisters alles andere als begeistert. "Wir haben in den letzten Tagen steigende Anfragen bekommen", sagt Landrat Thomas Brych in einem Beitrag des NDR. Insgesamt gab es 150 Anträge, einige Flüchtlinge seien sogar persönlich aus dem Ausland angereist.

Doch alle, die sich in Goslar melden, werden abgewiesen. "Wir wecken Erwartungen bei Menschen, die wir rein rechtlich so nicht erfüllen können. Weil es so einfach nicht ist und die Menschen letztendlich schwer enttäuscht werden", sagt der Landrat dem NDR. Flüchtlinge müssen in Deutschland zunächst ein Asylverfahren durchlaufen, bevor sie in die Kommunen verteilt werden. Koffer packen und ab nach Goslar - so leicht ist es leider nicht.