Tauchgang zur versunkenen Stadt (original) (raw)

Britisches Atlantis Tauchgang zur versunkenen Stadt

Vor der Küste von Suffolk liegen die Ruinen der versunkenen Stadt Dunwich. Jetzt wollen Forscher die Häuser und Straßen des "britischen Atlantis" mit neuesten High-Tech-Methoden kartieren.

Von Angelika Franz

Am Abend des 14. Januar 1328 zog ein Sturm auf an der Küste von Suffolk. Die Einwohner der Stadt Dunwich waren schwere Winterstürme gewohnt und trafen die üblichen Vorbereitungen. Sie vertäuten ihre Boote im Hafen, trieben das Vieh in die Ställe und verrammelten die Fensterläden. Dann brach draußen die Hölle los. Als sich der Wind Stunden später legte, und die ersten Menschen vor ihre Türen traten, erkannten sie die eigene Stadt nicht mehr. Die tobende Nordsee hatte die Kirchspiele St. Nicholas, St. Martin's, and St. Leonard's fast vollständig an sich gerissen. Wo einst Kirchen und Häuser standen, eine Windmühle ihre Flügel gedreht hatte, brandete an jenem Morgen gleich hinter der schroffen Steilküste nur noch die Nordsee.

Abstieg der größten und wichtigsten Stadt

Die meisten der verschwundenen Häuser hatten leer gestanden, in weiser Voraussicht waren ihre Bewohner vor dem Sturm geflohen. Auch die Kirche St. Leonard war bereits aufgegeben, die Bänke, das Silber und die große Glocke lagerten sicher in der benachbarten Gemeinde All Saints. Doch mit den Ereignissen jener Nacht begann der Abstieg der bis dahin größten und wichtigsten Stadt in ganz East Anglia. 1347 riss eine Sturmflut weitere 400 Häuser in die See. In weniger als 20 Jahren verlor Dunwich ein Viertel seiner Fläche. Der Hafen, wichtigste Einnahmequelle der Stadt, wurde durch die Küstenverschiebung unschiffbar.

Bei stiller See hört man die Glocken läuten

Heute ist von der einstigen Größe nur noch ein kleines Küstendorf übrig geblieben. Aus der Blütezeit stehen noch die Ruinen eines Franziskanerklosters und die Überreste des Hospizes für Leprakranke. Beide Gebäude wurden einst bewusst weit entfernt von der Stadt im Landesinneren errichtet, heute stehen sie an den Klippen. All Saints, die letzte Kirche von Dunwich, stürzte bei einem Herbststurm am 12. November 1919 ins Meer. Manchmal, wissen die Einheimischen, hört man bei stiller See unter Wasser die Kirchenglocken läuten. "Das britische Atlantis" nennen die Engländer ihre versunkene Stadt.

Als Kind kam Stuart Bacon mit seiner Familie an Sonntagnachmittagen oft an die Klippen von Dunwich - für ein Picknick unter den Bäumen im alten Kirchgarten von All Saints. Gespannt hörte er die Geschichten über den Turm, der erst vor kurzem im Meer versunken war. Aus dem Kliff ragten noch die alten Knochen der Friedhofsgräber. Ganz oben an der Kante hielt sich ein letzter Grabstein aufrecht, die Inschrift lautete: John Brinkley Easey.

Teile der Hafenanlage aus den Fluten geborgen

Heute ist vom ehemaligen Kirchengelände nichts mehr zu sehen. Aber Stuart Bacon kam immer wieder zurück. Für Spaziergänge. Und dann, in den frühen 70er-Jahren mit seiner Taucherausrüstung. 1971 untersuchte er die Ruinen von All Saints. Zwei Jahre später fand er die Ruinen von St. Peter. Auch heute noch taucht der Historiker, Unterwasserarchäologe und Gründer der "Suffolk Underwater Studies Unit" oft vor den Klippen. Er kennt die Straßen des versunkenen Dunwich inzwischen so gut wie die seines nur zehn Meilen entfernten Heimatortes Orford. Sein jüngster Fund waren vor gut zwei Jahren die alten Hafenanlagen der Stadt. Als im Oktober 2005 das Wasser ungewöhnlich niedrig stand, lagen plötzlich Holzkonstruktionen frei. "Das sind Teile des alten Hafens", interpretierte Bacon die Balken. "Entweder von einer Aufschleppe oder von einem Ankerplatz, vielleicht auch von einem Landeplatz für Boote."

Doch die Arbeit in den trüben Gewässern ist schwierig. "Ich bin wohl über eintausendmal da unten gewesen", erzählt Bacon im Gespräch mit stern.de. "Aber die Sicht liegt bei Null. Ich habe die Stadt mehr gefühlt als gesehen." Das kann sich jetzt ändern. Denn in diesem Sommer bekommt er Hilfe von David Sear. Der Professor für physikalische Geographie an der University of Southampton will die Stadt mit neuester technischer Ausrüstung untersuchen. Mit Sonar, speziellen Unterwasserkameras und Scannern planen die beiden Wissenschaftler, die Ruinen genau zu kartieren. Die Kosten, etwa 25.000 bis 34.000 Euro, trägt die Esmée Fairbairn Foundation. "Wir brauchten erst mal genügend Geld", sagt Bacon, "jetzt kann es endlich losgehen."

High-Tech am Meeresgrund

Auch David Sear ist gespannt auf die Ergebnisse. Er traf Stuart Bacon vor einigen Jahren, und war sofort beeindruckt von den Geschichten, die der vom Meeresgrund erzählte. Seine eigene Arbeit mit High-Tech-Geräten sieht Sear als die Fortsetzung der Forschungen Bacons. "In den letzten Jahren haben sich die Möglichkeiten, akkurate akustische Aufnahmen vom Meeresboden zu machen, enorm verbessert", sagt er.

Spannend wird die Suche sicher. Es gab Zeiten, in denen Dunwich zu den einflussreichsten Städten Englands zählte. 1229 zum Beispiel verlangte König Henry III 40 Schiffe von den Bürgern, "gut ausgerüstet mit allerlei Waffen, guten Steuermännern und Seeleuten". Nach zähen Verhandlungen schickte man 30 Schiffe. Damit stellte Dunwich ein Achtel der Flotte, mit der Henry im Mai 1230 gegen Frankreich in den Krieg zog.

Ab 1297 hatte Dunwich das Recht, zwei Abgeordnete ins Parlament zu entsenden, das entsprach damals der Größe der Stadt. Das Anrecht blieb mehr als fünf Jahrhunderte bestehen, auch als Straßenzug um Straßenzug im Meer versank. Erst im Jahr 1832 setze ein Gesetz der unverhältnismäßigen Repräsentanz der Stadt im Parlament ein Ende - zu diesem Zeitpunkt wohnten in Dunwich nur noch zwölf wahlberechtigte Bürger.

Sorge vor Touristen

Heute leben etwa 120 Leute in dem kleinen Ort. Etwas Aufregung brachten vor einer Weile zwei Architekten nach Dunwich: mit einem Kunstprojekt, das den Ideenwettbewerb "Landmark East" gewonnen hatte. Sie wollten eine alte Kirche von Dunwich wieder auferstehen lassen - als Kunstwerk aus hohen Stahlstangen, die am einstigen Standort in den Meeresboden gerammt werden. Doch dagegen wehrten sich die Einwohner vehement. Sie fürchteten, dann von einer Welle der anderen Art überrollt zu werden: von den Touristen aus dem Inland. Die, sagten die Leute, seien schlimmer als das Meer.

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