"Ich war naiv, weil ich dachte, Wissen führt zum Handeln" (original) (raw)
Mojib Latif ist einer der bekanntesten Klimaforscher Deutschlands. Anlässlich seines 70. Geburtstags zieht er Bilanz über seine Forschung und erklärt, wie Klimaschutz populär wird.
Herr Professor Latif, Sie werden in ein paar Tagen 70 Jahre alt. Was war denn persönlich Ihr spannendstes Wetter-Erlebnis?
Polarlichter, die sind wirklich einmalig. Als ich auf Grönland war, habe ich einige von ihnen gesehen – spektakulär. Da sieht man eben, wie sehr wir doch von der Sonne beeinflusst sind.
Ihr ganzes Forscherleben über haben Sie Belege dafür gesammelt, dass es den menschengemachten Klimawandel gibt und dass er voranschreitet. Wo sind diese Veränderungen schon am deutlichsten sichtbar?
Eigentlich überall auf der Welt, auch bei uns in Deutschland. Man sieht das vor allem an den Temperaturen, an der Zunahme der Hitzetage, der Abnahme der Frosttage, aber auch an der Zunahme der starken Niederschläge und am steigenden Meeresspiegel, der auch an unseren Küsten schon stattfindet. Wir sehen ihn darüber hinaus an der Vegetationsperiode, die hierzulande schon zwei Wochen länger dauert als früher. Der Klimawandel ist allumfassend, man muss nur die Augen aufmachen.
Zur Person
Mojib Latif, 1954 in Hamburg geboren, ist Professor am Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, wo er den Forschungsbereich Maritime Meteorologie leitet. Seit 2017 ist er Präsident der Deutschen Gesellschaft Club of Rome. Zu seinen Forschungsgebieten zählen u. a. die anthropogenen Einflüsse auf das Klima
Wird durch den Klimawandel unser Wetter immer unberechenbarer?
Wettervorhersagen sind kurzfristige Vorhersagen – und die funktionieren nach wie vor überaus gut. Sie werden auch in der Zukunft gut funktionieren. Die längerfristigen Entwicklungen beim Wettergeschehen über Jahrzehnte hängen stark davon ab, wie wir Menschen uns in der Zukunft verhalten. Das ist natürlich nicht vorhersagbar.
Was bedeutet das?
Für zukünftige Entwicklungen können wir nur sogenannte Projektionen machen, also Wenn-dann-Rechnungen. Wenn die Menschen immer mehr Treibhausgase ausstoßen, dann wird sich unser Klima so und so entwickeln und diese oder jene Wetterphänomene wahrscheinlicher oder intensiver. Und wenn wir weniger Treibhausgase ausstoßen, dann könnte es anders aussehen. Daraus ergibt sich eine große Bandbreite, wie sich unser Klima in Zukunft entwickeln könnte.
Heißt das, das Klima/Wetter wird automatisch immer extremer?
Das ist schon aufgrund einfacher physikalischer Überlegungen sehr plausibel. Wobei einige Phänomene sich linear verändern werden, andere exponentiell. Die durchschnittliche Temperatur der Erde wird sich in den nächsten Jahrzehnten vermutlich linear entwickeln. Schwieriger vorhersagen lässt sich die Entwicklung bei den sogenannten Kipppunkten. Wo gibt es solche Punkte und bei welcher Erwärmung würden sie tatsächlich überschritten werden? Diese Unsicherheiten sind der beste Grund, Klimaschutz zu betreiben. Denn wir verhalten uns ja momentan wie ein Autofahrer im dichten Nebel, der nicht weiß, was da auf ihn zukommt und trotzdem mit Höchstgeschwindigkeit auf der linken Spur rast.
Einer dieser Kipppunkte betrifft die Nordatlantische Strömung, die uns in Europa mit warmem Wasser aus dem Golf von Mexiko versorgt. Immer mal wieder gibt es Studien, die belegen sollen, dass dieser Strom abreißen könnte. Wie wahrscheinlich ist ein solcher "Point of no return"?
So ein Szenario wie im Film "The Day after Tomorrow" ist Blödsinn. Selbst bei einem Abriss der Nordatlantikströmung würden wir in Europa niemals eine Eiszeit bekommen. Tatsächlich zeigen uns die wenigen Messungen, die wir haben, viele Schwankungen von Jahr zu Jahr, aber im Moment keinen langfristigen Trend.
Anders scheint es ja bei einem weiteren Kipppunkt zu sein. Was würde passieren, wenn der Westantarktische Eisschild komplett auftauen oder abbrechen würde?
Die Folge wäre ein globaler Anstieg des Meeresspiegels um drei Meter. Aber so etwas würde nicht innerhalb der nächsten Jahrzehnte passieren, sondern schon relativ lange dauern. Ohne so ein Ereignis gehe ich davon aus, dass der Meeresspiegel bis zum Ende des Jahrhunderts nicht mehr als einen Meter ansteigen wird. Trotzdem ist jetzt schon absehbar, dass die Bewohner bestimmter Inselstaaten wie Kiribati oder Tuvalu durch den Anstieg des Meeresspiegels ihre Heimat verlieren werden.
Das 2015 in Paris beschlossene 1,5-Grad-Ziel der Erderwärmung ist längst Makulatur. Im vergangenen Jahr gab es schon etliche Monate, wo es gerissen wurde. Braucht es eine neue Zielvorgabe?
Viele Politikerinnen und Politiker brauchen solche Ziele, an denen sie sich abarbeiten können. Ich habe es immer für einen großen Fehler gehalten, das 1,5-Grad-Ziel in das Pariser Klimaabkommen reinzuschreiben. Schon damals war mir klar, es ist vollkommen illusorisch, dass man die Erderwärmung auf 1,5 Grad begrenzen kann. Zu diesem Zeitpunkt waren wir schon bei ungefähr einem Grad Erwärmung, und die Welt wird auch nicht von heute auf morgen keine Treibhausgase mehr ausstoßen. Der CO2-Gehalt der Atmosphäre wird weiter steigen, auch weil sich Länder wie Indien gerade erst industriell entwickeln. Deswegen werden wir, obwohl ich es hasse, das sagen zu müssen, auch die zwei Grad reißen. Im Moment sind wir auf Kurs von ungefähr drei Grad.
Das ist schon eine Menge.
Das ist eine verdammte Menge. Wir sehen schon jetzt bei ungefähr 1,5 Grad Erwärmung die dramatischen Auswirkungen. Nicht nur die aufs Klima, aufs Wetter, auf den Meeresspiegel, sondern auch auf den Bundeshaushalt. Allein die Ahrtalflut hat 30 Milliarden Euro gekostet. Das können wir einmal irgendwie kompensieren, aber nicht pausenlos. Und es gibt ohnehin Grenzen der Anpassungsfähigkeit an solche Wassermassen, wie sie zuletzt in Österreich, Polen und Tschechien fielen. Wenn Leute alles verlieren und die Regierung dann sagt, wir können dir leider nicht helfen, dann erzeugt das großen sozialen Sprengstoff.
Als in den 1980er-Jahren das Ozonloch entdeckt wurde, gab es schnell ein weltweites Abkommen zur Rettung der Ozonschicht. Warum kriegen wir das beim CO2 nicht hin?
Es gab damals nur eine Handvoll Unternehmen, die die Ozonschicht zerstörende FCKWs produziert haben, und diese hatten auch schon Ersatzstoffe entwickelt. Dadurch konnten sie ihr Geschäftsmodell beibehalten. Beim Ausstoß von Treibhausgasen gibt es unheimlich viele Lobbyinteressen, die eine Reduktion verhinderten, zum Beispiel die Länder, die fossile Energieträger fördern und die Industrien, die davon leben, wie die Autoindustrie. Und es gibt Politiker und Parteien, die gezielt Fake News über den Klimawandel verbreiten, wie Donald Trump und die AfD. Viele Menschen sind bereit, diese zu glauben, weil es einfach bequem ist und sie dann nichts ändern müssen.
Bei der Europawahl 2019 und der Bundestagswahl 2021 spielte Klimaschutz eine sehr große Rolle. Mittlerweile nervt das Thema gefühlt alle Leute – Stichwort Heizungsgesetz. Wie kann man die Menschen trotzdem mitnehmen und davon überzeugen, klimafreundlich zu handeln?
Indem sie davon profitieren. Anders geht es nicht. Warum hat heute fast jeder ein Mobiltelefon? Weil es nützlich ist und weil es bezahlbar ist. So etwas wie das ursprüngliche 9-Euro-Ticket war eine gute Sache. Selbst die späteren 49 Euro für das Deutschlandticket waren für viele nicht bezahlbar. Ich glaube, viele Politikerinnen und Politiker haben überhaupt kein Gefühl mehr dafür, wie es beträchtlichen Teilen der Bevölkerung eigentlich geht. Wie wenig Geld die haben, weil die Mieten und andere Preise explodiert sind. Und dann kommt die Bundesregierung auch noch mit dem Heizungsgesetz daher. Sie glauben gar nicht, was da bei mir als Unbeteiligtem los war. Ich habe viele Anrufe bekommen, von Leuten, die mir ihr Herz ausgeschüttet haben, woher sie jetzt 60.000 Euro für eine neue Heizung nehmen sollen.
Auch beim Kauf von E-Autos treten die Leute auf die Bremse.
Ich habe schon vor vielen Jahren gebetsmühlenartig wiederholt, dass die deutsche Automobilindustrie Gefahr läuft, ihr Geschäftsmodell komplett an andere Länder zu verlieren. Genau das sehen wir jetzt. Wir sind nicht zukunftsfähig mit unseren dicken Verbrennern und wir sind offensichtlich auch nicht in der Lage gewesen, vernünftige E-Autos zu bauen, die sich jeder leisten kann. Während die deutschen Hersteller ihre konventionellen Motoren einfach durch Elektromotoren ersetzt haben, bauten etwa die asiatischen Hersteller Computer auf Rädern. Dadurch sind sie uns meilenweit voraus.
Wir hier im globalen Norden können uns über so etwas Gedanken machen wie Klimaanpassung oder Förderprogramme für mehr E-Autos. Wie sieht das der globale Süden?
Es gibt keine Klimagerechtigkeit. Das ist es, warum aufstrebende Länder wie Indien so enttäuscht sind. Die Industrienationen tun als Hauptverursacher der globalen Erwärmung viel zu wenig, um ihnen unter die Arme zu greifen. Aber erzählen Sie mal in den USA oder Deutschland, wir schicken jetzt Geld in Länder wie China oder Indien, für deren Klimaschutz. Das geht nicht oder höchstens zulasten der Entwicklungshilfe.
Sie haben als Professor viele hundert, wenn nicht tausende Studenten ausgebildet. Von Fridays for Future hört man eigentlich kaum noch etwas. Wie motiviert man noch junge Menschen, sich für den Klimaschutz einzusetzen, obwohl ja scheinbar nichts vorangeht?
Ich finde es ein bisschen ungerecht, alles auf die jungen Menschen abzuladen. Eigentlich sind wir Älteren doch in der Verantwortung. Ich war gestern mit Schülerinnen und Schülern so um die 15, 16 Jahre zusammen. Die sind schon sehr interessiert. Sie wissen ganz genau, worum es geht, aber sie sehen auch, dass ihre Eltern und Großeltern nichts tun wollen. Und deswegen gibt es eine gewisse Ohnmacht unter ihnen.
Gab es irgendetwas in Ihrer wissenschaftlichen Laufbahn, das Sie falsch eingeschätzt haben?
Ich war naiv, weil ich dachte, Wissen führt zum Handeln. Aber das ist eben nicht so. Ich kommuniziere jetzt seit 40 Jahren über den Klimawandel und der Erfolg ist sehr überschaubar. Ein Neurowissenschaftler hat mir dann vor ein paar Jahren erklärt, warum das so ist: weil uns die Zukunft nicht interessiert, weil wir sie nicht spüren können, weil sie die Menschen nicht emotional berührt. Deswegen muss es uns entweder richtig hart treffen, damit sich etwas ändert, was ich nicht hoffe. Oder die Menschen müssen vom Klimaschutz profitieren.
Sie stammen aus einem sehr religiösen Elternhaus. Woraus schöpfen Sie selbst Zuversicht?
Aus der technologischen Entwicklung. Ich weiß aus der Vergangenheit, dass technologische Umbrüche immer rasend schnell passieren. Der Übergang vom Pferdewagen zum Automobil ging ungeheuer schnell, innerhalb weniger Jahrzehnte. Wir brauchen keine Kohle, Öl, Erdgas, es gibt genug erneuerbare Energie auf der Erde und auch die Technik, diese zu nutzen. Aber die Rahmenbedingungen müssen attraktiv sein. Nicht durch Subvention der Erneuerbaren Energie, sondern durch den Wegfall von Subvention von klimaschädlichen Produkten wie Diesel oder Flugbenzin. Ein E-Auto dürfte nicht teurer sein als ein Verbrenner und Bioprodukte nicht mehr kosten als herkömmliche Lebensmittel. Nur so wird es funktionieren.