Keine Großoffensiven, dem Krieg geht die Puste aus – wer davon profitiert (original) (raw)
Der Winter geht vorbei, ohne dass es in der Ukraine zu einer Entscheidung gekommen ist. Angekündigte Offensiven fanden nicht statt. Gestorben wird dennoch. Wie wird der Krieg 2023 weitergehen?
Offensiven, Schlachten, Durchbrüche und die "Entscheidung" – all das sollte der Winter bringen. Nun ist der Winter vorbei und nichts davon ist passiert. Nach den Kämpfen um Cherson und der russischen Räumung des Brückenkopfes am Westufer des Dnjepr, gelang der Ukraine keine größere raumgreifende Aktion. Die seit dem Herbst vielfach beschworenen Gegenoffensiven, sie fanden bislang nicht statt.
Und Russland? Wurde nicht versichert, Putin würde mit einer Armee von Wehrpflichtigen versuchen, das zu wiederholen, was ihm im Jahr zuvor nicht geglückt war? Etwa Kiew einzunehmen, mit 200.000 Mann. Und sich - bitteschön - am Datum des Überfalls orientieren.
21. März 2023,17:50
Geschehen ist davon nichts. Der Krieg ist in ein blutiges "Klein-Klein" übergegangen, das an den Ersten Weltkrieg erinnert. Nach einer stürmischen Anfangsphase hatten sich damals die Fronten im Westen festgefressen. Und man begann die Linien mit einem undurchdringlichen System von Gräben, Bunkern, Drahtverhauen und Minenfeldern zu befestigen, bis kein Durchkommen mehr möglich war. So wie heute im Donbass.
In der Ukraine nichts Neues
Kiew gelingen seitdem gelegentlich spektakuläre Kommandoaktionen, ansonsten richtet man sich an der Botschaft auf, dass die Russen sehr schwere Verluste erleiden, man selbst aber nur geringe. Putins Truppen hingegen arbeiten sich seit Monaten an der Kleinstadt Bachmut und deren Umgebung ab. Dort werden die Geländefortschritte nach Häuserzeilen und nicht nach Provinzen abgemessen. Dazu bauen sie auch an anderen Abschnitten Druck auf, ohne viel zu erreichen. Das Narrativ des Kremls ähnelt dem von Kiew, nur mit umgekehrten Rollen. Dieses Mal sind Kiews Verkuste groß und die der russichen Streitkräfte gering." Dazu kommt die strategische Luftoffensive, die der Infrastruktur zusetzt, die aber nicht dazu geführt hat, dass überall in der Ukraine die Lichter und Heizungen ausgehen und die Städte in der Kälte des Winters unbewohnbar werden.
Was steckt hinter dieser Erlahmung? Können die Kontrahenten nicht mehr, oder wollen sie nicht? Die Antwort lautet: beides stimmt. In der ersten Kriegsphase musste Russland lernen, dass in dem weitgehend zersiedelten Gebiet der Ukraine tiefe Durchbrüche keine Entscheidung erzwingen können. Wenn der Gegner die Angriffstruppen passieren lässt, sich aber in Städten und ausgebauten Stellungen festsetzt und von dort aus die rückwärtigen Linien der Invasoren attackiert. Diese Lektion haben die Russen gelernt und anders als vorhergesagt, den gleichen Fehler nicht zum zweiten Mal gemacht.
Große Mengen an Waffen benötigt
Kiew hingegen konnte die Offensiven bei Charkiw und Cherson mit Truppen ausführen, die durch westliche Waffenlieferungen – namentlich aus Polen – ausgerüstet waren. Doch insbesondere bei Cherson wurden diese Einheiten stark abgenutzt. Größere Offensiven kann Kiew nur planen, wenn massiv neues Material ins Land kommt. So wie es Walerij Saluschnyj, Chef der ukrainischen Streitkräfte, mit dem Satz "Ich brauche 300 Kampfpanzer, 600 bis 700 Schützenpanzer und 500 Haubitzen" gefordert hat.
Diese Mengen sind bislang nicht einmal zugesagt, geschweige denn eingetroffen. Auf einen Glücksfall wie in der Charkiw-Offensive kann Kiew heute nicht mehr bauen. Damals ist es mit einer Reihe von Probeangriffen gelungen, eine schwache Stelle in der ausgedünnten russischen Front zu finden. Schnelle, doch eher kleine Verbände brachen durch und besetzten Städtchen im Hinterland der russischen Front. Fast in Panik räumten die Russen ihre Stellungen und ließen dabei sehr viel Material aber kaum Soldaten zurück. Auf so einen Trick dürften die Russen nicht noch einmal hereinfallen.
Statisch gegen mobil
Grundsätzlich haben die Kontrahenten eine entgegengesetzte Agenda. Russland will Kiew einen weitgehend stationären Stellungs- und Abnutzungskrieg aufzwingen. Hier kommen die eklatanten Probleme der russischen Armee etwa bei der Kommunikation und Koordination nicht so zum Tragen wie einem Bewegungsgefecht mit schnell wechselnden Lagen. Dafür wollen die Russen von ihrer Dominanz bei Feuerkraft, Mannstärke, Artillerie und Luftunterstützung profitieren.
Gleichzeitig nutzen ihre Raketen die Infrastruktur der Ukraine ab. Zu einem echten Zusammenbruch des Stromnetzes ist es nicht gekommen. Zumindest scheint es so, denn die Versorgung der Zivilbevölkerung arbeitet, wenn auch mit Aussetzern. Das wurde aber nur möglich, weil der Industrie der Strom genommen wurde. Aus Moskaus Sicht sind die damit verbundenen Produktionsausfälle wichtiger als die Frage, ob in den Wohnungen nur noch Kerzen brennen.
30. September 2021,09:54
Wer hält die Abnutzung länger aus?
Kiew kann einen statischen Krieg nicht ewig ertragen. Die Verbündeten werden Geld und Waffen liefern, aber nicht die Verluste an Soldaten ersetzen. Um einer ewig währenden Zermürbung zu entgehen, muss die Ukraine ihr Heil in überraschenden Offensiven suchen. Wo nach einem Durchbruch, der stets mit Verlusten verbunden ist, im Hinterland dann einfache Eroberungen möglich sind. Und nur eine Offensive birgt die Chance zu einer Kesselbildung, mit der die Ukraine dann endlich im großen Maßstab russische Gefangene in die Hand bekäme.
Solange es solche raumgreifenden Operationen nicht gibt, setzt sich Russland mit seiner statischen Kriegsführung durch. Durch unentwegte Kämpfe in begrenzten Räumen sollen die ukrainischen Kräfte zermürbt werden – so als würde man mit einem Hammer stumpf, aber unentwegt eine Mauer bearbeiten.
Kiew muss die Russen überraschen und das wird voraussichtlich nicht durch eine Wiederholung früherer Operationen an anderer Stelle gelingen. Das kann im Rahmen einer großen Sommeroffensive geschehen. Denkbar wäre auch eine zeitlich näher begrenzte Entsatzoperation im Raum Bachmut, die die beiden Angriffszangen der Wagener-Söldner aushebeln könnte.
Aufgrund der eher zögerlichen Bereitschaft des Westens, das für eine Offensive nötige Material und die dazugehörige Munition zu liefern, muss die Ukraine für den großen Schlag abwarten. Je länger sie wartet, desto mehr kann Putin die eroberten Gebiete befestigen und die Frontlinien durch neu ausgehobene Truppen verstärken. Umso herausfordernder wird ein entscheidender Durchbruch.
Das Kriegsjahr 2023 wird einfach zu beurteilen sein. Denkbar ist es immer noch, dass Kiew den Russen eine entscheidende Niederlage beibringt, etwa mit einem Vorstoß bis an das Schwarze Meer. Sollte das Jahr jedoch vorüberziehen, ohne dass es zu größeren Rückeroberungen kommt, wäre das ein klarer Sieg Putins. Wieso? Weil seine Truppen ein weiteres Jahr das ukrainische Militär, die Infrastruktur und die ganze Gesellschaft abnutzen konnten.