Fleischwolf-Strategie: Putin will in der Kleinstadt Bachmut den Krieg gewinnen (original) (raw)
Kiew kann Bachmut im Donbass halten, doch der Preis ist hoch. Und darauf setzt Putin, für ihn können die Kämpfe gar nicht blutig genug sein.
Die Front in der Ukraine ist etwa 1000 Kilometer lang. Nach dem spektakulären Vormarsch der Ukraine östlich von Charkow und dem bald darauf folgenden Rückzug der Russen aus dem Cherson-Brückenkopf gibt es keine größeren Frontverschiebungen mehr, dennoch wird im Donbass erbittert gekämpft. Seit Monaten wird um die Kleinstadt Bachmut gerungen. Mit einem Sieg hier hofft Moskau einen Keil zwischen die nördlichen und südlichen Donbass-Stellungen der ukrainischen Verteidiger zu treiben.
Doch auch hier sind die ohnehin geringen Bewegungen der Front erlahmt. Den Vorstößen der Wagner-Soldaten, die vornehmlich zum Einsatz kommen, folgen regelmäßig die Gegenangriffe der Ukraine, die dazu führen, dass die eben eroberten Stellungen wieder aufgegeben werden müssen. "No pasaran!", die Russen kommen nicht durch, könnte man meinen. Eine weitere Niederlage des Kremls.
Ein stumpfes Gemetzel
Doch so einfach liegen die Verhältnisse nicht. Der Kampf um Bachmut dient nicht allein dazu, sich im Falle eines Sieges weitere operative Optionen zu verschaffen. Dies könnte letztlich dazu führen, die gesamte ukrainische Donbassfront aus den Angeln zu heben. Primär folgt die Schlacht dem gleichen Kalkül wie die russische Donbass-Offensive im Frühjahr. Bachmut ist ein "Meat Grinder", ein Fleischwolf – oder eine "Blutmühle", so der deutsche Terminus aus dem Ersten Weltkrieg (Wie der russische Fleischwolf gestoppt werden kann).
Es geht darum, dem Gegner Verluste beizubringen, die er auf Dauer nicht ertragen kann. Verfolgt man die westlichen Nachrichten, so scheitert auch dieses Kalkül Moskaus kläglich. Im Gegenteil, die russischen Verluste sind unerträglich. Gerade die britische Presse berauscht sich an Drohnen, die russische Transporter in die Luft jagen, hilflos im Dreck liegenden Infanteristen, die von Artillerie beschossen werden. Und natürlich wird auch das Genre "Girls with Guns" von den Briten eifrig bedient, etwa wenn ukrainische Scharfschützinnen bekennen, "I don't give a damn", wenn sie einen Moskowiter töten.
13. November 2022,07:43
Es fragt sich nur, stimmen diese Beichte oder ist das Bild, das sie zeichnen, nicht einseitig? Auf prorussischen Kanälen lassen sich genau die gleichen Bilder des menschlichen Elends im Krieg finden. Nur liegen hier ukrainische Soldaten zerfetzt in ihren Gräben, mit Schwenk auf einen Toten, der noch ein paar Meter weiter robben konnte. Drohnen werfen Bomben auf den Rauchabzug eines Bunkers und Video-Clips zeigen die letzten Momente aus den Handys gefallener Ukrainer.
Zahl der Verluste entscheidet den Krieg
Das Narrativ "Die Russen verlieren unglaublich viele Soldaten" ist so alt, wie Putins Überfall auf die Ukraine. Die Zahl der Verluste wurde seit Februar meist mit minimal eins zu vier zugunsten der Ukraine angegeben. Verluste im militärischen Sinn umfassen nicht allein die gefallenen Soldaten, dazu zählen auch Schwerverletzte, die absehbar nicht an die Front zurückkehren werden, dazu die Verschollenen, Vermissten und die Deserteure. Bei den Deserteuren wiederum werden nur die gezählt, die bereits einberufen sind und sich von der Truppe entfernen. Männer, die sich der Einberufung entziehen, etwa in dem sie ins Ausland gehen, gehen nicht in die Statistik ein.
Lange Rede: Nur ein Teil der "Verluste" sind Tote – die anderen sind nur für das Militär verloren. Eine Verlustrate von eins zu vier – teilweise wurden sogar Zahlen kolportiert, die bis zu eins zu sieben reichten – kann auch ein zynischer Despot wie Putin nicht lange ertragen. Diese Story ergänzt andere Pro-Kiew-Narrative im Informationskrieg: den Russen gehen die Panzer, die Munition, die Missiles und die Raketen aus. Ihre "guten" Truppen wurden vernichtet, jetzt kommt nur noch Kanonenfutter an die Front.
Tatsächlich liegen die Verhältnisse anders. Beide Seiten veröffentlichen keine detaillierten oder wahrheitsgetreuen Zahlen, wie man es im Krieg auch nicht anders erwarten kann. Doch im November haben Schätzungen, die auf das US-Militär zurückgehen, deutlich andere Akzente gesetzt. Bei aller Unsicherheit einer Schätzung gehen diese Zahlen von etwa 100.000 Mann Militär-Verlusten aus – jeweils für beide Seiten. Ein Pari. Hinzu kommen die zivilen Verluste, die bei dem Krieg hauptsächlich die Ukraine belasten.
Anstatt "eins zu vier" heißt es "eins zu eins". So ein Verhältnis hat weite Folgen. Es bedeutet, dass die Kräfte der ukrainischen Armee ebenso abgenutzt sind, wie die russischen Invasionstruppen. Einfach gesagt, zu jeder Story "Putins Elite Brigade aufgerieben" – gibt es die entgegengesetzte Geschichte. Den russischen Verlusten an Panzern und schwerem Gerät stehen dann ähnliche Verluste Kiews entgegen. Überraschend ist das nicht. Dass die ursprüngliche Ausrüstung der Kiewer Kräfte weitgehend verzehrt wurde, war schon im Sommer bekannt. Die Herbstoffensiven wurden im Wesentlichen mit Gerät bestritten, welches aus dem Westen geliefert wurde.
Kiews Chance liegt in der Offensive
Und so dreht sich der Blick auf den Krieg. Die Ukraine kann ihn nur gewinnen, wenn weiter kühne Operationen gelingen und wenn Russland weit mehr Truppen und Material verliert. "Eins zu vier" wäre die Straße zum Sieg. Langsam, blutig und mühsam – aber unaufhaltsam. Bei "eins zu eins" sieht das Bild anders aus. Auch so ein Stand würde Putins Generälen keinen Platz im Militär-Pantheon sichern, aber den Sieg. Unrühmlich, hässlich und blutig – aber eben auch unaufhaltsam.
Und darum machen "Meat Grinder" wie Bachmut für den Kreml Sinn. In der zerschossenen Kleinstadt kommt es zu Kämpfen wie im "Rattenkrieg" von Stalingrad (Pawlows Haus – wie ein Feldwebel sechzig Tage lang eine deutsche Division aufhielt). Eine unablässige Zermürbung auf der Ebene kleiner Bewegungen. Große Fehler wie bei raumgreifenden Operationen kann es hier kaum geben. Wie in einen Ofen werden immer neue Soldaten in diese Hölle geschoben. Auch für die Russen sind die Verluste groß. Doch Putin hilft der Einsatz der Wagner-Söldner, sie zählen nicht zu den offiziellen Streitkräften und sind zumindest alle "irgendwie" freiwillig in der Ukraine. Die Wagnerianer teilen sich zudem in zwei Gruppen: spezialisierte und erfahrene Berufssoldaten und Kanonenfutter, das aus Gefängnissen und Straflagern Russlands stammt. Die Verluste der ehemaligen Gefangenen dürften achselzuckend hingenommen werden.
Bisher hat die Ukraine den Fall von Bachmut immer verhindern können, die Russen stets wieder zurückgeworfen. Doch dafür müssen unentwegt neue Truppen herangeführt werden, die in dieser Hölle verschwinden. Und das will Russland nur. Die harten, scheinbar "sinnlosen" Kämpfe sollen verhindern, dass Kiew eine neue operative Reserve aufbauen kann, die dann Richtung Krim eingesetzt werden kann. Stattdessen geraten die Truppen in einen "Meat Grinder", in dem sie die Russen tapfer abwehren können, wo sie selbst aber keine erfolgversprechenden Optionen entwickeln können. Mit dem Druck auf die Kleinstadt will Moskau die Ukraine in eine statische und passive Form der Kriegsführung zwingen.
Moskau führt neue Truppe zu
Russland ist es zudem gelungen, die Front nach dem Rückzug aus Cherson zu stabilisieren. Etwa 100.000 Mann aus der ersten Teilmobilisierung sollen der Invasionsarmee bereits zugeflossen sein. Weitere 200.000 Mann werden in den nächsten Monaten erwartet, gleichzeitig dürfte eine weitere Mobilisierungswelle einsetzen.
Russland hofft, den Abnutzungskrieg für sich entscheiden zu können. Das Land kann nicht nur weitere Reservisten aufbieten, es kann auch Tausende von T-72 und T-90 Kampfpanzern in Stand und in Marsch setzen. Das gleiche gilt für Artillerie und andere Waffen. Nur ein Beispiel: Die Ukraine hat einige alte Drohnen aus dem Kalten Krieg wieder flott gemacht und setzt sie gegen Flugplätze tief in Russland ein. Die ganze Welt berichtete. Doch das machen die Russen auch. Sie arbeiten die Raketen und Missiles aus der UdSSR-Zeit wieder auf und setzen sie ein – doch ihr Vorrat ist viel größer als der Kiews.
05. Juli 2020,17:51
Einen dumpfen Abnutzungskrieg der "Meat Grinder" kann die kleine Ukraine nicht gewinnen. Kiews Chance liegt im mobilen Bewegungskrieg. Die großen Geländegewinne im Herbst zeigen, dass das ukrainische Militär ein Bewegungsgefecht besser meistert als die Russen. Nur müsste Kiew in Zukunft einen Kessel bilden, in dem Moskau dann wirklich größere Mengen an Truppen verliert. Aber um so einen Krieg zu führen, braucht das Land einen kontinuierlichen Zustrom schwerer Waffen. Namentlich Kampfpanzer und Schützenpanzer, aber auch Artillerie, Hubschrauber und Kampfjets. Waffen, die im Sommer 2022 geliefert wurden, verringern sich in diesem Krieg unaufhörlich, nur ein Teil davon wird im Frühjahr noch einsatzfähig sein.