Ihr Warten hat ein Ende – Zehntausende Migranten streben nun wieder in die USA (original) (raw)
Mit dem Ende der Corona-Notverordnung an diesem Donnerstag fällt in den USA auch die umstrittene "Title 42"-Regelung, die eine einfach Abschiebung ermöglichte. In den USA wappnet man sich für eine neue Flüchtlingswelle – Tausende warten bereits an der Grenze.
Die Sacred Heart Church ist ein auffälliges Bauwerk in El Paso. Mit ihren hohen Türmen ragt sie heraus aus den sonst zwei- bis dreistöckigen Gebäuden in der Straße, große Portale führen in den prächtig geschmückten Innenraum des Glaubenshauses. Doch während der vergangenen Wochen ist die Kirche auch zum Symbolbild einer Flüchtlingskrise geworden, die sich ab Ende der Woche zu verschlimmern droht. An diesem Donnerstagabend endet in den USA die Corona-Notverordnung und damit auch der viel diskutierte "Title 42".
Noch unter der Regierung von Ex-Präsident Donald Trump eingeführt ermöglichte es die Regelung, über zwei Millionen Migranten bereits an der Grenze zu den USA ohne ein Asylverfahren abzuschieben. Als Gesundheitsmaßnahme gegen eine Corona-Verbreitung getarnt, kam der bereits 1944 im Gesundheitsgesetz verankerte Passus der Trump-Regierung gerade recht, um gegen die Einwanderung in die USA vorzugehen.
Doch bereits vor dem Ende von "Title 42" ist das menschliche Leid rund um die Kirche im Süden von El Paso, nur wenige Meter von der Grenze zu Mexiko entfernt, zu sehen. Vor der Kirche haben in den vergangenen Tagen über 3000 Migranten Zuflucht gesucht. Sie schlafen auf Betten aus Pappe und bauen sich mit Laken kleine Zelte, um sich vor der sengenden Sonne in Texas zu schützen. Eine Reihe von Dixie-Toiletten sind die einzigen sanitären Anlagen. "Das ist eine richtige Krise und ich frage mich, wie es hier nach dem 11. Mai aussehen wird, wenn es jetzt schon so dramatisch ist", erklärte Rafael Garcia, Pfarrer der Sacred Heart Church, im Gespräch mit der "New York Times".
11. Mai 2023,18:11
USA: Tausende Flüchtlinge warten an der Grenze zu Mexiko
Es ist die Frage, die sich nicht nur die vier US-Staaten Kalifornien, Arizona, New Mexico und Texas stellen, die an der 3145 Kilometer langen US-Grenze zu Mexiko liegen. Denn auf der anderen Seite der Grenze sammeln sich seit Tagen immer mehr Menschen, die ab Donnerstag in die USA einwandern wollen. Wie viele es genau sind, kann keiner sagen. In Ciudad Juárez, einer Großstadt, die nur durch die Grenze von El Paso getrennt ist, sollen sich nach Medienberichten zwischen 3.000 und 35.000 Migranten aufhalten. In Tijuana, unweit von San Diego gelegen, sollen es ebenfalls mindestens 15.000 sein.
Das Ende von "Title 42" kommt nicht überraschend, aber mit reichlich Kontroversen. Bereits im vergangenen Jahr wollte die US-Regierung unter Joe Biden die Regulierung aufheben, ein von den Republikanern angerufenes Gericht aber untersagte das Ende. Der Supreme Court gab Ende Dezember einem Antrag von 19 von Republikanern geführten Bundesstaaten statt. Diese hatten mit einem Ansturm von Migranten gerechnet, ein abschließendes Urteil hätte der Supreme Court erst diesen Sommer gefällt. Nachdem das Weiße Haus aber im März das Ende der Corona-Notverordnung verkündete, ist auch "Title 42" ab Donnerstag Geschichte.
Mit einer neuen Flüchtlingswelle wird auch der Druck auf Joe Biden größer. Bereits seit Beginn seiner Amtszeit im Januar 2021 ist die Zahl der Flüchtlinge an der Grenze zu Mexiko stark gestiegen – auch weil Biden eine andere Einwanderungspolitik als Donald Trump umsetzte. Als im Dezember 2022 über 250.000 Menschen die Grenze passieren wollten, sah sich aber auch die Biden-Regierung genötigt zu reagieren und verschärfte die Einwanderung für Menschen aus Venezuela, Nicaragua, Kuba und Haiti.
![Flüchtlinge passieren den Rio Grande auf dem Weg von Mexiko in die USA. Am Donnerstag fällt in den USA die umstrittene "Title 42"-Regelung](https://image.stern.de/33455734/t/yL/v2/w960/r1.7778/-/imago0247169522h.jpg "US-Grenzpolitik: Flüchtlinge passieren den Rio Grande auf dem Weg von Mexiko in die USA. Am Donnerstag fällt in den USA die umstrittene "Title 42"-Regelung")
Flüchtlinge passieren den Rio Grande auf dem Weg von Mexiko in die USA. Am Donnerstag fällt in den USA die umstrittene "Title 42"-Regelung
© Omar Ornelas / Imago Images
Für die US-Regierung werden in den kommenden Wochen die Schmuggler zum großen Prüfstein. "Schmuggler sehen ihre Chance in der Änderung der Regulierung und verbreiten viele Falschinformationen", erklärte Alejandro Mayorkas, Minister für Innere Sicherheit, in der vergangenen Woche. Er bereitete die Grenzbeamten darauf vor, dass es zu deutlich mehr Begegnungen mit Flüchtlingen an der Grenze kommen werde, die die Beamten aber auch das ganze System stark belasten werden. "Um das klipp und klar zu sagen: Wir werden unsere Grenzen nicht am 11. Mai öffnen", betonte Mayorkas.
Tatsächlich warten mit dem Wegfall von "Title 42" strengere Regulierungen auf Migranten, denn die USA kehren mehr oder weniger zu dem vorher geltenden "Title 8" zurück. Ein Ende April veröffentlichter Plan der Biden-Regierung sieht vor, dass Migranten vorab einen Termin bei den Grenzbehörden vereinbaren müssen. Zudem müssen Migranten zunächst in den Ländern, durch die sie bis an die US-Grenze gereist sind, Asyl beantragen müssen – sonst können sie aus den USA verwiesen werden. In den USA sollen dazu die Kapazitäten in den Aufnahmezentren ausgebaut werden. Wer illegal in die USA einreist, dem drohen zukünftig Haftstrafen.
USA und Mexiko schließen Abkommen zur Rückführung
Mit Mexiko schlossen die USA in der vergangenen Woche die Vereinbarung, dass das Land Migranten aus mehreren Ländern Mittelamerikas aufnimmt. Dazu plant die US-Regierung, in den Herkunftsländern Informationszentren zur Einwanderung in die USA zu errichten – geschehen ist dieser Hinsicht bislang noch nichts. Auch mehr Abschiebeflüge sind geplant, jedoch mit einem Problem: Durch die schwierigen Beziehungen zu Kuba und Venezuela wollen diese keine Abschiebeflüge landen lassen.
Beamte der U.S. Customs and Border Protection beobachten eine Gruppe von Migranten, die an der Grenze bei El Paso auf die Einwanderung in die USA warten
© Ivan Pierre Aguirre / Imago Images
Für Joe Biden erweist sich die Politik an der Grenze als harter Prüfstein. Denn nicht nur die Verschärfung der Einreiseregelung sorgt für Ärger bei den Demokraten, sondern auch die Verstärkung der Truppen an der Grenze. 1500 Mitglieder der Nationalgarde werden für drei Monate zur Unterstützung der Grenzbeamten in den Südwesten geschickt. Diese werden jedoch nur in administrativen Aufgaben eingesetzt und nicht in der Strafverfolgung – letzteres wäre ein Verstoß gegen US-Gesetze.
Schnell wurden Vergleiche zu Donald Trump laut, der 2018 über 5000 Soldaten an die Grenze schickte, um einer "Invasion von Migranten Herr zu werden", wie es Trump damals beschrieb. "Das Recht aus Asyl ist ein Menschenrecht, geschützt von US- und internationalem Recht", erklärte Ilhan Omar, demokratische Kongressabgeordnete aus Minnesota. Die Opfer dieser Regelung seien die Unschuldigen. "Menschen, die kein Verbrechen begangen haben, außer ein besseres Leben in den USA zu suchen. Ich weiß, wovon ich rede. Ich war eine von ihnen", schrieb Omar auf Twitter. Die 40-Jährige war als Jugendliche aus Somalia in die USA geflüchtet.
28. Dezember 2022,16:23
Auch Bob Menendez, demokratischer Senator aus New Jersey, kritisierte die Entsendung von Truppen an die Grenze. "Die Militarisierung der Grenze ist inakzeptabel", erklärte der Politiker in einer Stellungnahme. Es gebe bereits eine humanitäre Krise im Südwesten der USA und "unsere das Militär zu entsenden schickt nur das Signal, dass Migranten eine Bedrohung sind, die man nur mit dem Militär kontrollieren kann."
Für Biden gibt es aber auch den erwartungsgemäßen Gegenwind von Seiten der Republikaner. Schon seit Monaten schicken Greg Abbott, Gouverneur von Texas, und Floridas Gouverneur Ron DeSantis Migranten mit Bussen in demokratisch regierte Großstädte und bringen so die Flüchtlingskrise auch in andere Teile des Landes. (Hier finden Sie die lesenswerte Reportage meiner Kollegin Leonie Scheuble aus New York) Gerade Abbott erhöhte zuletzt öffentlich den Druck auf die US-Regierung. "Ich habe 10.000 Männer der texanischen Nationalgarde an die Grenze geschickt, um die Lücken zu schließen, die Bidens rücksichtlose Politik der offenen Grenzen verursacht hat", schrieb Abbott auf Twitter. Die 1500 Soldaten der US-Regierung könnten illegale Einwanderung dagegen nicht stoppen.
Republikaner nutzen Krise für den Wahlkampf
Es ist absehbar, dass die Republikaner die Situation an der Grenze nutzen werden, um Biden Versagen bei der Einwanderungspolitik vorzuwerfen und Stimmung im Wahlkampf zu machen. So erklärten die republikanischen Abgeordneten des House Judiciary, einem ständigen Ausschuss des Repräsentantenhauses, dass Bidens Truppen nicht dafür gedacht seien, illegale Einwanderung zu stoppen. "Er sendet die Truppen, damit illegale Einwanderer schneller erfasst und ins Land gelassen werden", behaupteten die Republikaner. Dass die Soldaten per Gesetz gar nicht zur Strafverfolgung eingesetzt werden dürfen, verschwiegen sie aber dabei.
Die republikanische Präsidentschaftskandidatin Nikki Haley sieht die Schuld jedoch nicht allein beim US-Präsidenten. "Das fällt auch dem Kongress auf die Füße. Dass 'Title 42‘ endet, ist keine Überraschung und niemand hat etwas dagegen unternommen, außer sich zu beschweren", erklärte Haley bei "Fox News".
Hunderte Migranten warten vor diesem Grenzübergang in El Paso auf ihre Papiere, um in die USA einreisen zu dürfen
© Jonathan Fernández / Imago Images
Auch aus einem weiteren Grund könnte sich die Flüchtlingskrise negativ auf Biden und seinen Wahlkampf ausüben. Mit Arizona grenzt einer der sogenannten Swing States direkt an die mexikanische Grenze an – also einer jener Staaten, der über die Besetzung des Senats und bei der Wahl des nächsten Präsidenten entscheidend sein kann. Im Jahr 2020 triumphierte Biden hier knapp über Trump und holte sich entscheidende Stimmen. Mit einem Flüchtlingsstrom in die beiden Großstädte Tucson und Phoenix aber könnte sich der Wind drehen. Kyrsten Sinema, ehemals demokratische und mittlerweile unabhängige Senatorin aus Arizona, griff bei einem "CBS"-Interview die Regierung scharf an. Weder sie noch die Sicherheitsbehörden in ihrem Staat würden irgendwelche Informationen bekommen, wie mit den Flüchtlingsströmen ab Freitag umgegangen werden soll. "Entweder hat das Innenministerium Informationen, die sie nicht teilen wollen oder sie haben keine – und das ist besorgniserregend", sagte Sinema. Die Biden-Regierung habe zwei Jahre Zeit gehabt, sich auf die Situation vorzubereiten und habe das nicht getan. Das hat mittlerweile auch Biden selbst erkannt. "Es wird eine Weile chaotisch sein", erklärte der US-Präsident am Dienstag auf die Frage, ob die USA auf den Ansturm vorbereitet seien.
Unterdessen verschärfen die Grenzbeamten ihre Gangart. Am Dienstag kündigte die Customs and Border Protection (CBP), eine Behörde für Innere Sicherheit, an, dass sie in El Paso eine große Aktion zur Verfolgung illegaler Einwander plane – ihnen aber gleichzeitig anbot, sich bei den Grenzbehörden zu melden. Hunderte stellten sich anschließend vor den Büros an, in der Hoffnung, ihre Papiere für den Aufenthalt oder die Weiterreise zu bekommen. Werden jedoch illegale Einwanderer während der Strafverfolgung festgenommen, drohte ihnen die CBP damit, sie entweder nach der "Title 42"- oder der ab Freitag gültigen "Title 8"-Regulierung zu behandeln.
Derweil hofft Manuel Sanchez, bald auch legal in den USA bleiben zu dürfen. Er gehört zu den 3000 Migranten, die rund um die Sacred Heart Church ohne Dach über dem Kopf leben, viele von ihnen sind illegal eingewandert. "Wir schlafen draußen in der Kälte auf dem Boden und sind hungrig", sagt Sanchez, der aus Venezuela geflüchtet ist. In der Kirche sind die illegalen Flüchtlinge noch sicher vor den Grenzbeamten. Ähnlich sieht es auch in anderen Aufnahmestationen aus, die komplett überfüllt sind, von den Beamten aber in Ruhe gelassen werden. "Wir warten darauf, dass unsere Anträge bearbeitet werden, weil wir eine Erlaubnis zur Weiterreise brauchen. Deshalb warte ich", so Sanchez.
Seit Wochen wartet Franklin, eine Flüchtling aus Venezuela, im mexikanischen Ciudad Juárez auf einen Termin bei den US-Einwanderungsbehörden
© Corrie Boudreau / El Paso Matters / Imago Images
Auf der anderen Seite der Grenze steigt die Nervosität vor der Wiedereinführung von "Title 8". "Die Unsicherheit und die Verzweiflung bei den Menschen steigt von Tag zu Tag und es gibt viele Fehlinformationen", sagte Franklin, ein venezolanischer Flüchtling, der "El Paso Times". Seit Wochen lebe er in einer Notunterkunft in Ciudad Juárez. Sämtliche Versuche, einen Termin für die Einwanderung zu bekommen, schlugen bislang fehl.
In El Paso hat man auf die Flüchtlingszahlen mittlerweile reagiert und den Notstand ausgerufen. Dadurch können Fördergelder abgerufen und neue Aufnahmestationen gebaut werden. Die Flüchtlingskrise im Süden von Texas beginnt nicht erst am 12. Mai, sie hat längst begonnen.